Moral in Zeiten der Krise
hiesigen »Hass-Predigern« wie Henryk M. Broder, die selbst zu Fundamentalisten würden. »Wenn man aber mit den ›westlichen Werten‹ ebenso kämpferisch umgeht, wie es der radikale Islam mit seinen Schriften tut, dann verhält man sich wie der, den man sich zum Feind erkoren hat.«
Der Vergleich ist treffend, aber er lenkt von dem fruchtbaren Bemühen ab, den Streit zu versöhnen. Seit 15 Jahren erinnere ich immer wieder an drei große Philosophen, die während der blutigen mittelalterlichen Kreuzzüge auf die gemeinsame Wurzel der drei monotheistischen Religionen hinwiesen. Den Anstoß gab der arabische Philosoph Ibn Rushd oder Averroes. Vereinfachend gesagt lautete seine Botschaft so: Jede der drei Religionen hat einen eigenen spezifischen Teil. Das ist die Offenbarung. Daneben aber existiert eine gemeinsame Vernunftreligion, eine Art Gattungsvernunft. Ein intellectus agens , eine aktive Intelligenz, die eine gemeinsame Wertewelt aller drei Religionen enthält, wie wir es heute vielleicht nennen würden. Diesen Gedankennahmen der jüdische Philosoph Maimonides und der deutsche Dominikaner Albertus Magnus auf.
Die drei stoppten damit nicht die Kreuzzüge. Aber sie setzten ein lange nachwirkendes Zeichen. In Paris und Oberitalien leben die Ideen des Arabers Averroes lange weiter. Noch im 18. Jahrhundert preist ihn Voltaire als wichtigen Aufklärer des westlichen Kulturprozesses. Unlängst war es der ägyptische Präsident Anwar al Sadat, der mit der gemeinsamen Verwurzelung der monotheistischen Religionen seine Versöhnungspolitik mit Israel begründete. Er besuchte Israel und schloss mit Ministerpräsident Begin einen Friedensvertrag, was beiden die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis einbrachte. Später starb Sadat bei dem Anschlag eines heimischen Fanatikers.
Eine seiner ersten Reden als Präsident der USA hielt Barack Obama in Kairo, in der er den islamischen Staaten die Hand reichte. Wunderbare Reden, Staatsbesuche, Treffen der Religionen und akademische Tagungen können die tiefe Kluft der Entfremdung dennoch nicht verleugnen, die sich über die Jahrhunderte aufgetan hat. Umso wichtiger ist jede Anstrengung, sich an die gemeinsame Wurzel der Religionen zu erinnern und darüber nachzudenken, wenn Feindschaft erkennbar dem Bedürfnis folgt, eigenen Frust durch Projektion abzureagieren.
Das Christentum war in schlechter Verfassung, als Papst Urban II. 1095 in Clermont zum 1. Kreuzzug aufrief: »Hier sind die Freunde Gottes, dort sind seine Feinde.« Ähnlich klang es bei Bush nach dem 11. September: »Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für die Terroristen!« Dann führte er Krieg gegen Saddam Hussein.Bush hätte die Amerikaner und die halbe Welt nicht in den Irak-Krieg verwickeln und mit dem Krieg keine zweite Wahlperiode überstehen können, wäre ihm nicht das tief verankerte Bedürfnis nach Hassprojektion in der Bevölkerung zu Hilfe gekommen. Viele waren deshalb bereit zu übersehen, dass der Krieg den islamistischen Terrorismus im Irak erst entflammt hat.
Nun ist das militärische Abenteuer im Irak gescheitert, und die Amerikaner haben mit Obama einen Präsidenten gewählt, der ihnen die Aussicht eröffnet, die nationale Selbstachtung durch eine moralische Neuorientierung wiederherzustellen. Amerika als Versöhnungsmacht. Ein Präsident, der den Mut hat, Hiroshima als Schuld einzugestehen, der den Atomwaffen-Sperrvertrag wieder anerkennt und auf das Endziel einer atomwaffenfreien Welt hinarbeitet. Doch hat ihm Bush ein Afghanistan hinterlassen, in dem eine Vielzahl von zivilen Bombenopfern das erhoffte Vertrauen der Bevölkerung weitgehend zerstört hat. Einen tragfähigen Frieden wird es aber nur im Konsens mit maßgeblichen Kräften im Lande geben.
Viele sehen Obama auf dem Prüfstand. Wird er die in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllen? Aber das ist die falsch gestellte Frage. Die richtige lautet: Werden die Amerikaner den Weg durchhalten, für den sie sich durch Obamas Wahl entschieden haben? Werden sie selbst ihr »We can, yes, we can!« wahr machen, das sie ihm zugerufen haben? Und wird der Westen einen Weg mitgehen, der den Menschen den Mut zu mehr sozialer Verantwortung und zu mehr Friedfertigkeit abfordert? Es geht in der Tat um eine radikale Umbesinnung. Psychoanalytisch kann man auch wieder von der Arbeit an einer Verdrängung sprechen. Die Psychoanalyse kann immer nur auf das Verdrängte aufmerksam machen undauf einen Gesundungswillen hoffen, der das Verdrängte befreit.
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