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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Kommissar einen weiteren Tischnachbarn aufs Korn. Er hatte nämlich unlängst einen interessanten Schmöker gelesen, eine Übersetzung aus dem Italienischen. Ein gewisser Cesare Lombroso, Professor der Gerichtsmedizin aus Turin, stellte darin eine kriminologische Theorie auf, wonach »geborene« Verbrecher an ihrem antigesellschaftlichen Verhalten keine Schuld trügen. Nach der Evolutionstheorie des Doktor Darwin durchlaufe die Menschheit in ihrer Entwicklung bestimmte Etappen und nähere sich allmählich der Vollkommenheit. Der Verbrecher indes sei evolutionärer Ausschuß, ein zufälliger Rückfall in die vorhergehende Entwicklungsstufe. Darum sei es höchst einfach, einen potenziellen Mörder und Räuber zu erkennen: Der ähnele einem Affen, unserem Vorfahren. Der Kommissar sann lange über das Gelesene nach. Einerseits hatten in der bunten Reihe der Mörder und Räuber, mit denen er in den fünfunddreißig Jahren seines Polizeidienstes zu tun gehabt hatte, längst nicht alle einem Gorilla geähnelt, es waren auch Engelchen unter ihnen gewesen, deren Anblick zu Tränen rührte. Andererseits hatte es auch genug Affenartige gegeben. Und an Adam und Eva glaubte Coche als überzeugter Antiklerikaler sowieso nicht. Die Darwin-Theorie wirkte da vernünftiger. An Bord war ihm unter den Passagieren der ersten Klasse ein Früchtchen aufgefallen, das direkt einer Abbildung »Charakteristischer Mördertyp« entstiegen schien: niedrige Stirn, vorspringende Augenwülste, kleine Äuglein, plattgedrückte Nase, schiefes Kinn. Darum hatte der Kommissar gebeten, diesen Etienne Boileau, einen Teehändler, in den Salon »Hannover« zu plazieren. Doch der Teehändler erwies sich als netter und lustiger Mensch, war Vater von elf Kindern und überzeugter Philantrop.
    Es sah nun ganz so aus, als würde Coches Seereise auch nicht in Port Said, dem nächsten Hafen nach Le Havre, enden. Die Ermittlungen zogen sich in die Länge. Sein in vielen Jahren erprobtes Gespür sagte ihm, daß er Nieten zog und nicht an den richtigen Leuten dran war. Es zeichnete sich die scheußliche Aussicht ab, daß er die ganze verdammte Reise mitmachen mußte – Port Said, Aden, Bombay, Kalkutta –, um sich dort an der ersten Palme aufzuhängen. Er konnte doch nicht wie ein geprügelter Hund nach Paris zurückkehren! Die Kollegen würden ihn auslachen, sein Chef würde ihm die Reise erster Klasse auf Staatskosten unter die Nase reiben. Womöglich wurde er vor der Zeit in Pension geschickt.
    In Port Said verausgabte sich Coche notgedrungen, er mußte weitere Hemden kaufen, versah sich mit ägyptischem Tabak und fuhr zum Zeitvertreib für zwei Francs mit einer Droschke durch die berühmte Hafenstadt. Nichts Besonderes. Na schön, ein mächtiger Leuchtturm, zwei endlos lange Molen. Das Kaff machte einen sonderbaren Eindruck – nicht Asien und nicht Europa. Wenn man die Residenz des Generalgouverneurs des Suezkanals betrachtete, war es Europa. In den Hauptstraßen europäische Gesichter, da flanierten Damen mit weißem Sonnenschirm, und reiche Herren mit Panamahut oder Kreissäge trugen ihren Wanst spazieren. Bog die Droschke aber in das Einheimischenviertel ab, so fuhr sie durch Gestank, Fliegengeschwirr und faulende Abfälle, und schmutzige arabische Bengel bettelten um Kleingeld. Warum nur gingen die reichen Nichtstuer auf Reisen? Es war überall das Gleiche: Die einen verfetteten von der Völlerei, die anderen quollen auf vom Hunger.
    Der Kommissar, ermüdet von der Hitze und den pessimistischen Beobachtungen, kehrte mißmutig aufs Schiff zurück. Und welch ein Glück – ein neuer Passagier. Obendrein wohl aussichtsreich.
     
    Der Kommissar zog beim Kapitän Erkundigungen ein. Also, der Name: Erast P. Fandorin, Russe. Sein Alter war merkwürdigerweise nicht angegeben. Beruf: Diplomat. Eingetroffen aus Konstantinopel, unterwegs nach Kalkutta, von dort nach Japan, zu seiner Dienststelle. Aus Konstantinopel? Aha, dann hatte er wohl an den Friedensverhandlungen nach dem kürzlich beendeten russisch-türkischen Krieg teilgenommen. Coche schrieb alle Angaben sorgfältig auf ein Blatt Papier und versorgte dieses in der geheiligten Kalikomappe, in der er alles Material zu dem Fall aufbewahrte. Von der Mappe trennte er sich nie – er blätterte darin, überlas Protokolle und Zeitungsausschnitte, und in nachdenklichen Momenten zeichnete er auf die Ränder kleine Fische und Häuser. Da äußerten sich Herzenswünsche. Wenn er erst mal Abteilungsleiter war und später

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