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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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d’identification‹, den ein junges Genie leitet – Alphonse Bertillon. Er hat ein ganzes System der Registrierung verbrecherischer Elemente entwickelt.«
    »Ich habe Doktor Bertillon während meines letzten Aufenthalts in P-paris mehrmals getroffen«, sagte Fandorin überraschend. »Er hat mir von seiner anthropometrischen Methode erzählt. Die Bertillonage ist eine sehr scharfsinnige Theorie. Haben Sie sie schon in der Praxis a-angewendet? Mit welchen Resultaten?«
    »Einstweilen gibt es keine.« Der Kommissar zuckte die Achseln. »Zunächst müssen sämtliche Rückfalltäter der Bertillonage unterzogen werden, und das dauert Jahre. In Bertillons Abteilung herrscht ein richtiges Chaos: Die Arrestanten werden in Ketten hereingeführt, dann werden sie von allen Seiten gemessen wie Pferde auf dem Jahrmarkt, und ihre Maße werden auf Karteikarten festgehalten. Dafür wird die Polizei bald viel besser arbeiten können. Mal angenommen, man findet am Ort eines Einbruchs einen Abdruck der linken Hand. Man mißt ihn und guckt in die Kartothek. Aha, Mittelfinger 89 Millimeter lang, zu suchen in Gruppe Nr. 3. Dort sind siebzehn Einbrecher mit entsprechender Fingerlänge registriert. Das Weitere ist ein Kinderspiel: überprüfen, wer zur Tatzeit wo war. Wer kein Alibi hat, wird geschnappt.«
    »Die Verbrecher sind also nach der Länge des Mittelfingers registriert?« fragte der Russe mit lebhaftem Interesse.
    Coche schmunzelte nachsichtig in seinen Schnauzbart.
    »Dort haben sie ein ganzes System, mein junger Freund. Bertillon teilt alle Menschen in drei Abteilungen – nach der Länge des Schädels. Jede der drei Abteilungen teilt sich in drei Unterabteilungen – nach der Breite des Schädels. Also gibt es neun Unterabteilungen. Die Unterabteilung teilt sich ihrerseits in drei Gruppen – nach der Länge des linken Mittelfingers. Siebenundzwanzig Gruppen. Aber das ist noch nicht alles. Jede Gruppe hat drei Sektionen – nach der Länge des rechten Ohrs. Wieviel Sektionen? Richtig, einundachtzig. Die weitere Klassifizierung erfaßt die Körpergröße, die Handlänge, die Sitzhöhe, die Fußgröße, die Länge des Ellbogengelenks. Insgesamt 19   683 Kategorien! Ein vollständig bertillonierter Verbrecher, der in unsere Kartei geraten ist, kann der Justiz nicht mehr entrinnen. Davor hatten sie’s besser, sie gaben bei der Verhaftung einen falschen Namen an und brauchten nicht zu verantworten, was sie früher einmal angerichtet hatten.«
    »Hervorragend«, sagte der Diplomat nachdenklich, »aber die Bertillonage wird bei der Aufklärung eines konkreten Verbrechens kaum helfen, vornehmlich wenn der Mann noch nie verhaftet war.«
    Coche breitete die Arme aus.
    »Nun, das ist ein Problem, das die Wissenschaft nicht lösen kann. Solange es Verbrecher gibt, wird es ohne uns Berufsermittler nicht gehen.«
    »Haben Sie von F-fingerabdrücken gehört?« fragte Fandorin und präsentierte dem Kommissar seine schmale, doch sehr kräftige Hand mit polierten Fingernägeln und einem Brillantring.
    Mit einem mißgünstigen Blick auf den Ring (mindestens ein Jahresgehalt des Kommissars) sagte Coche auflachend: »Handlesen wie bei den Zigeunern?«
    »Keineswegs. Schon in alten Z-zeiten hat man gewußt, daß das Relief der Papillarlinien auf den Fingerkuppen bei jedem Menschen anders ist. In China bestätigt ein Kuli einen Arbeitsvertrag mit dem Abdruck seines in Tusche getauchten Daumens.«
    »Nun, wenn jeder Mörder so liebenswürdig wäre, seinen Daumen in Tusche zu tunken und den Abdruck am Tatort zurückzulassen …« Der Kommissar lachte gutmütig.
    Aber der Diplomat war nicht zum Scherzen aufgelegt.
    »Herr Schiffsdetektiv, Sie sollten w-wissen, daß die moderne Wissenschaft zuverlässig festgestellt hat: Auf jeder trockenen festen Oberfläche bleibt bei Berührung ein Fingerabdruck zurück. Wenn der Täter auch nur flüchtig eine Tür, ein Tatwerkzeug, eine Fensterscheibe angefaßt hat, hinterläßt er eine Spur, mit deren H-hilfe er überführt werden kann.«
    Coche wollte ironisch entgegnen, in Frankreich gebe es zwanzigtausend Verbrecher mit zweihunderttausend Fingern, und wenn man die alle mit der Lupe untersuchen wolle, werde man erblinden, aber er ließ es. Er mußte an die zertrümmerte Vitrine in der Rue de Grenelle denken. Auf dem zerschlagenen Glas waren viele Fingerabdrücke gewesen. Aber niemandem war eingefallen, sie zu kopieren, und die Scherben waren im Müll gelandet.
    Sieh an, wie weit es der Fortschritt gebracht

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