Mord im Garten des Sokrates
nicht den Boden zu seinen Füßen. Wenn Periander gestern Nacht am Itonia-Tor unterwegs gewesen war – und daran hatte ich wenig Zweifel –, musste er eine Laterne oder eine Fackel bei sich getragen haben, um den Weg nicht zu verlieren. Man hatte aber weder das eine noch das andere bei ihm gefunden. Natürlich konnte ihm jemand sein Licht weggenommen haben. Vielleicht war er aber auch einfach nicht allein gewesen, sondern in Begleitung, und eben diese Begleitung trug auch das Licht. Was war dann aber aus dem Fackelträger geworden?
Das waren meine Gedanken, als ich auf Schritte aufmerksam wurde, die hinter mir zu hören waren. Begleitete mich dieses Geräusch nicht schon eine ganze Weile? Jedenfalls zu lange, als dass hier ein nächtlicher Spaziergänger zufällig hinter mir hergehen konnte? Ich trug keine Waffe bei mir. Als Lykon mich am Mittag zu Alkibiades rief, hatte ich weder mein Schwert noch meinen Bogen mitgenommen. Das bereute ich jetzt. Kamen die Schritte näher? Der Mensch hinter mir wurde schneller. Wieso beeilte er sich so? Gleich musste er mich einholen. Ich hörte schon seinen Atem. Rasch glitt ich um die nächste Ecke und verbarg mich in einem Hauseingang. Mein Verfolger ging ungerührt weiter. Nicht für einen Moment hatte er gezögert und versucht, mir zu folgen. Jetzt verhallten seine Tritte in den schmalen Gassen des Kerameikos. Ich sah wirklich schon Gespenster, wie Lykon bemerkt hatte.
Ich war froh, endlich in den von Öllampen erleuchteten Innenhof unseres Hauses zu treten, wo Aspasia und mein Vater mich erwarteten. Beide umarmten mich erleichtert – Aspasia in einer Art freilich, die mir verraten sollte, dass der Ärger über Lykons Erscheinen heute Mittag noch nicht vergessen war.
Wie setzten uns an den einfachen Tisch, den wir sommers wie winters in unserem Garten stehen hatten. Hier wartete ein Teller mit Fladenbrot, getrocknetem Stockfisch und Früchten auf mich. Dazu gab es geharzten Wein und frisches Wasser. Das Fladenbrot war noch ganz warm, Aspasia musste es gerade erst auf dem Küchenherdrand gebacken haben. Also aß ich noch einmal. Natürlich durfte ich auch Aspasia und meinem Vater die Geschichte des heutigen Tages nicht schuldig bleiben, und ihnen schilderte ich sie in allen Einzelheiten. Ich erwähnte sogar den Papyrus, worauf mein Vater mich bat, ihm das Blatt zu zeigen. Er hielt es in das Licht der Lampe, die auf dem Tisch stand, und betrachtete es voller Abscheu.
«Weißt du, was das sein könnte?», fragte ich ihn. Er schüttelte langsam den Kopf und überlegte angestrengt. Ich erkannte es daran, wie er seine Lippen spitzte und sich gleich darauf räusperte, eine Gewohnheit, die er seit jeher besaß, sich im Alter aber zu verstärken schien. Und er wurde alt; ich bemerkte es nicht zum ersten Mal. Sein braungebrannter Schädel war fast kahl, seine Haut von der Sonne und seiner Zeit als Hoplit zur See gegerbt, seine Arme und Beine waren dünner geworden. Aber er blieb ein kluger Kopf und ließ sich nichts vormachen, der alte Marktrichter.
«Gab es am Itonia-Tor eigentlich keine Wachen?», fragte er, während er den Papyrus in der Hand hielt.
«Nein, in ruhigen Zeiten lassen wir es nachts unbewacht und unverschlossen. Die Leute vom Diorneia-Tor daneben sollen ab und zu nach dem Rechten sehen.»
Mein Vater räusperte sich und konzentrierte sich wieder auf das Blatt in seinen Händen.
«Es sieht aus, als wäre es aus einem teuren Buch herausgerissen», sagte er nach einer Weile. «Der Papyrus ist kräftig, eine gute Qualität. Die Schrift stammt von einem geschickten Kopisten, vielleicht sogar von einem Kanzleischreiber …»
«Das dachte ich auch schon. Ich hatte gehofft, die Zeilen würden dich an irgendetwas erinnern, was du selbst schon einmal gelesen hast.»
«Nein, tut mir leid. Sie sagen mir nichts. Aber ich kenne jemanden, der dir weiterhelfen kann. Er hat jedes Buch gelesen, das je geschrieben wurde.»
«Du meinst Sokrates?», fragte ich, obwohl mir die Antwort eigentlich klar sein musste, verehrte mein Vater diesen Mann doch beinahe ebenso wie Perikles.
«Ja, Sokrates, den meine ich», antwortete er begeistert. «Weißt du, dass das Orakel von Delphi ihn den Weisesten unter allen Athenern genannt hat?»
«Ja, Vater, das weiß ich. Du hast es mir schon erzählt.» Tatsächlich wusste ich nicht mehr, wie oft mir mein Vater die Geschichte schon erzählt hatte. Aspasia versuchte, ein allzu spöttisches Lächeln zu verbergen.
«Ich frage mich nur, woher du wissen
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