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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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her, aber diese Blüten schmolzen auf der Haut. Die Soldaten trauten ihren Augen nicht. Die meisten hatten noch nie in ihrem Leben auch nur eine einzige Schneeflocke gesehen. Wer den Schnee kannte, hatte ihn vielleicht einmal im tiefsten Winter im Gebirge erblickt, aber niemals an der Küste und niemals im Herbst.
Der Olymp lag im Schnee, das wussten wir alle. Niemand zweifelte daran, wer dieses Zeichen gesandt haben könnte. Die Männer legten ihre Waffen auf den Boden, sahen zum Himmel und fingen die kleinen Kristalle mit offenen Mündern auf. Die Bruderschlacht war beendet, und mit ihr die Herrschaft der Dreißig.
    Gleich, nachdem Kritias gefallen war und noch bevor die ersten Flocken die Erde berührten, hatte ich meinen Bogen geschultert und war den Hügel hinuntergegangen. Natürlich konnte ich in dem Moment nicht sicher sein, dass der Kampf entschieden war. Es war mir auch gleich. Ich musste ihn sehen. Ich musste seinen Leichnam sehen, musste ihm den Helm vom Kopf ziehen und in Kritias’ totes Gesicht blicken. Vorher würde ich keine Ruhe mehr finden.
    Ich war nur noch zehn Schritte von Kritias’ Leiche entfernt, als ich den in Purpur gewandeten Reiter erkannte, obwohl ich nur seinen Rücken sah. Er hielt den Toten an die Brust gedrückt. Er weinte und jammerte und schrie wie ein Weib. Als er meine Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um. Er sah mich, sah den Bogen und verstand.
    «Warum nur, warum, Nikomachos?», klagte Lykon und drückte Kritias’ Körper an sich. «Er hat doch niemandem etwas getan!»
Zwei Hopliten traten von hinten an Lykon heran und zogen ihn vom Körper seines Geliebten weg. Er wehrte sich verzweifelt. Er heulte, kreischte, spuckte und schrie. Niemand lachte über ihn.
Ich kniete mich neben die Leiche und nahm ihr den Helm ab. Es gab keinen Zweifel. Ich sah in Kritias’ tote Augen.
«Lasst ihn», sagte ich den Soldaten, die Lykon festhielten. Kaum ihrem Giff entwunden, warf er sich wieder auf den Boden und umarmte seinen Kritias wie zuvor.
«Er hat doch niemandem etwas getan! Er hat doch niemandem etwas getan!», wimmerte er immer wieder.
«Ach ja?», meinte ich höhnisch und verbittert. «Und was ist mit den vielen Menschen, die er ermordet hat? Was ist mit Periander?»
Lykon sah mich mit verheultem Gesicht an, dann schüttelte er den Kopf. «Das war nicht Kritias!», sagte er dumpf. Gerade da begann es zu schneien. Dicke Flocken fielen vom Himmel und bedeckten Kritias’ leblosen Körper wie ein Leichentuch.
    es war am abend des großen Sieges über die Dreißig Tyrannen. Der Schnee war über Tag geschmolzen, Piräus zur großen Siegesfeier geschmückt. Aspasia reichte mir gerade meinen Purpurmantel, als mein ehemaliger Geliebter Lykon das Haus betrat und darum bat, mich sprechen zu dürfen. Die Augen meines Weibes blitzten grün auf. Sie war von jeher eifersüchtig auf Lykon und duldete ihn normalerweise nicht in ihrer Nähe. An jenem Tag aber nickte sie kurz und ließ mich mit meinem früheren Eromenos allein. Sie wusste, er hatte vor wenigen Stunden den Geliebten verloren, und ahnte die Tiefe seines Verlustes. Das machte sie nachsichtig gegen ihn.
Lykon trug nicht mehr das gleiche Gewand wie am Morgen.
    Er hatte sich in einen schwarzen Umhang gehüllt, sich das Gesicht gewaschen und schien nun männlicher, als ich ihn je zuvor gesehen hatte. Ich führte ihn in Chilons Garten, wo wir uns ungestört unterhalten konnten, und fragte, was er von mir wolle.
    «Thrasybulos hat Kritias’ Leiche nach Piräus bringen lassen», antwortete Lykon in ruhigem Ton. «Ich bitte dich, mit ihm zu sprechen, damit er sie herausgibt. Ich möchte Kritias beerdigen.»
    «Ich spreche mit ihm», antwortete ich sofort, «aber unter einer Bedingung.»
Lykon verstand, ohne dass ich weitersprechen musste.
«Du willst wissen, wie alles geschah», sagte er.
«Ich muss», antwortete ich.
«Das habe ich erwartet», sagte Lykon und presste die Lippen zusammen. Dann seufzte er tief und begann: «Du weißt, dass ich Kritias schon kannte, als wir ihn in Perianders Elternhaus trafen. Ich war ihm ein paar Tage vorher in der Palaistra begegnet. Ich war mit meinen Kameraden dort. Er kam zu uns, setzte sich zwischen mich und meine Kameraden und schenkte jedem eine Drachme. Jeder Junge wetteiferte um ihn, und ich wollte es ihnen zeigen. Ich wollte der Schönste sein, wollte gefallen. Ich habe Kritias verliebte Augen gemacht und ihm etwas auf der Flöte vorgespielt. Ich hatte Erfolg. Er lud mich zu sich ein. Wir

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