Mord im Garten des Sokrates
Kritias hätte Periander umgebracht, dass du nicht nach rechts und nicht nach links gesehen hast … Dabei warst du nahe dran.» Lykon hielt mir seine Hand vor das Gesicht und zeigte mir Daumen und Zeigefinger, die sich fast berührten. «Überlege einfach! Du bist doch sonst so klug. Wen konnte Kritias Perianders Familie unmöglich ausliefern, auch wenn er es noch so sehr gewollt hätte?»
«Pasion! Ihn brauchte er für seine Verschwörung am allernötigsten», antwortete ich.
«Aber nein, Pasion ist ein alter Mann! Er hätte niemanden erschlagen können.»
«Kritias würde nie einen Verwandten ausliefern: Also Charmides!» Auch diese Antwort kam schnell und unüberlegt.
«Charmides ist träge …», seufzte Lykon.
Alles begann sich in mir zu drehen. Wieder stiegen die Bilder des Symposions in mir auf. Ich sah die Lichter in den Bäumen, die Mädchen in ihren durchsichtigen Gewändern, Periander, wie er Kritias betrunken und verzweifelt von sich stieß und wegrannte. Und endlich sah ich ihn – den einen, den ich bisher übersehen hatte, wie ihn jeder übersah . Ich erkannte seine schlaksige Gestalt, den kleinen Kopf auf dem breiten Hals. Es war, als stünde ich neben ihm, während er die Buchrolle aufhob. Sie war ihm gerade vor die Füße gerollt. Er las den Titel, erkannte Perianders Absicht und ergriff die Gelegenheit, die sich ihm bot. Endlich konnte er bedeutend, konnte er wichtig sein, nicht immer nur das missratene Kind neben dem hochbegabten Bruder, das alle nur dulden, weil es aus einer reichen Familie stammt. Bedeutend sein, bedeutend …
«Glaukon», sagte ich endlich und erwachte wie aus einem Traum.
Lykon nickte und betrachtete mich für einen Augenblick mit einer Offenheit, die ich noch nie an ihm gesehen hatte. Es gab keinen Zweifel. Hier endlich lag die Wahrheit zutage, klar und unverborgen.
«Was ist Wahrheit, Sokrates?», hatte ich einst gefragt.
«Wahrheit ist das Unverborgene. Wahrheit ist, was klar und offen zutage liegt», lautete die Antwort.
Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und legte die Hände vor mein Gesicht. Platons Bruder, kein anderer. Wie hatte ich ihn übersehen können? Wenn Platon gegen irgendjemanden nichts unternehmen würde, noch nicht einmal wegen des Mordes an seinem Geliebten, dann gegen ihn, den Bruder, so missraten und selbstsüchtig er auch sein mochte. Und ich hatte noch nicht einmal mit ihm gesprochen!
Ich weiß nicht, warum, aber in dem Moment fiel mir ein, wie die Unterhaltung mit Sokrates damals am Ufer der Ilisos weitergegangen war. Es war an jenem hellen Tag; die Luft war so rein und durchsichtig, die Gebirge so nah, als könnte man sie mit Händen greifen. Der Tod meines Vaters lastete auf meiner Seele. Ich suchte einen Sinn in den Dingen, die geschahen, und fand ihn nicht. Sokrates hatte mir lange zugehört. Dann erzählte er von seinem ersten Besuch in Delphi. Er war wohl ein junger Mann gewesen damals, ein Steinmetz, noch unbeweibt. Er hatte die Pythia fragen wollen, was er aus seinem Leben machen sollte, welches Schicksal ihm bestimmt war. Es kam nicht dazu. Bevor er zu den Priestern ging, besuchte er den Apollo-Tempel. Sein Blick fiel auf die Inschrift über dem großen Tor. «Erkenne dich selbst.» Der Satz traf ihn unmittelbar. In ihm erkannte er seine Bestimmung, seine einzige Bestimmung. Das war es, was er zu tun hatte, nicht mehr, nicht weniger.
Lykon blieb eine Weile stumm. Es war kalt. Sein Atem dampfte.
«Wie war das mit Anaxos?», fragte ich.
«Was denkst du, wie es war?», fragte Lykon zurück.
«Offen gestanden, glaube ich, dass ich es gewesen bin, der Anaxos und Kritias zusammengebracht hat.»
«Nicht schlecht», sagte Lykon wie ein Lehrer, der den Schüler lobt. «Und weißt du auch wie?»
«Ich habe nicht die geringste Vorstellung. Weißt du es?»
Lykon zog den Mantel enger.
«Du hast Anaxos auf Kritias’ Spur gebracht, aber da war es schon zu spät. Das persische Schiff hatte Piräus verlassen. Der Kredit für Sparta war beschlossen und gesichert. Der Pfeil war abgeschossen …», sagte er mit einem Seitenblick, den ich nicht zu deuten wagte. «Kritias hat Anaxos freundlichst empfangen und ihm nach einigem Zögern fast seinen ganzen Plan offenbart.»
«Und Anaxos hat nichts gegen ihn unternommen?»
«Rein gar nichts», sagte Lykon tonlos. «Kritias hat ihm einfach klargemacht, dass Anaxos ihn jetzt zwar vor Gericht bringen konnte, die Niederlage Athens aber nicht mehr aufzuhalten war. Anaxos soll beeindruckt gewesen
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