Mord im Garten des Sokrates
sein.»
«Und?»
«Kritias hat Anaxos angeboten, mit ihm zusammen zu regieren, wenn die Zeit gekommen war, aber Anaxos hat abgelehnt. Er wollte nur bleiben, was er war, auch unter Kritias: Herr der Spione. Nur für seinen Sohn bat er um ein spezielles Amt.»
«Seinen Sohn?», fragte ich. «Anaxos hat einen Sohn?»
«Oh, ja», antwortete Lykon, «warum auch nicht? Nach allem, was ich höre, muss man aber wohl sagen, dass er einen Sohn hatte .»
«Um welches Amt hat er Kritias gebeten?»
«Kennst du die Antwort nicht selbst?»
«Hauptmann der Bogenschützen!», sagte ich.
Lykon nickte.
«Wie habe ich Anaxos auf Kritias’ Spur gebracht?», fragte ich, während mir noch das Narbengesicht vor Augen stand.
« Der Staat der Athener », antwortete Lykon. «Anaxos wusste, dass Kritias der Autor war. Er hat es dir nur nicht gesagt. Ein paar Tage nachdem du ihm der Papyrus übergeben hattest, stand er in Kritias’ Garten. Sein Sohn begleitete ihn. Er legte den Ausriss des Buches vor Kritias und fragte, ob er wisse, wo man es gefunden habe … Aber der Tod Perianders war Anaxos gleichgültig. Das Einzige, was ihn beschäftigte, war die Frage, wie es Kritias gelungen war, die Verschwörung vor ihm geheim zu halten und dabei nicht nur Verbindungen zu den Persern zu knüpfen, sondern auch noch Alkibiades zu bestechen, damit der Frachter landen konnte.»
Ich erhob mich, ich hatte genug gehört. Es lag nun klar zutage … – unverborgen. Ich ging ins Haus, um Aspasia zu sagen, dass ich Lykon zu Thrasybulos begleiten würde. Sie sah mich mit einem eigentümlichen Ausdruck an.
«Weißt du nun endlich, was du so dringend wissen musstest?», fragte sie.
«Ja», antwortete ich.
«Und war dieses Wissen es wert, deine Familie monatelang allein zu lassen?»
Ich verstand nicht.
«Geh jetzt», sagte sie bestimmt und kehrte mir den Rücken. Es war nicht leicht, uns den Weg aus der Stadt heraus zu bahnen, wo Thrasybulos’ Zelte standen. Ganz Piräus war auf den Beinen und halb Athen zu Besuch. Es war wie bei einer Prozession. Die Menschen drängten Schulter an Schulter durch die Straßen, und wo sich ihnen ein wenig Platz bot, tanzten und sangen sie, berauscht von Wein und Freude. Lykon hatte seine Kapuze über den Kopf geschlagen und suchte sich gebückt einen Weg durch die vollen Gassen. Er musste fürchten, als Kritias’ Geliebter erkannt und von der wütenden Menge totgeschlagen zu werden. Trotzdem ging er weiter. Es blieb kein Zweifel, Lykon hatte Kritias geliebt, und er tat es noch nach dessen Tod. Und mich?
Wir hatten die Stadtgrenze hinter uns gelassen und sahen im hellen Mondlicht schon das Zeltlager, als ich Lykon zurückhielt. Er drehte sich zu mir und sah mir unmittelbar in die Augen. Mir war, als sähe er in mich hinein.
«Ich wollte nur noch eines wissen», sagte ich kleinlaut.
«Was?», fragte er sachlich. Ich zögerte.
«Ob du mir etwas bedeutet hast?», fragte er.
Ich nickte. Ich weiß nicht, warum, aber meine Zunge klebte mir am Gaumen.
«Ich wusste, dass du mich fragen würdest», antwortete er und sah auf die Straße, wo die Menschen in Trauben an uns vorbeizogen. «Kritias wusste es auch. Er hat oft über dich gesprochen, weißt du? Er hat dich in gewisser Weise verstanden … Aber ich kann dir nicht antworten. Ich weiß es nicht.»
«Wieso hat Kritias über mich gesprochen?», fragte ich. Allein die Vorstellung war mir zuwider.
«Er sagte, er könne verstehen, dass du ihn hasst, weil er mich dir weggenommen hat …»
Ich stand da wie versteinert. Lykon zuckte mit den Schultern.
«Ich habe ihm gesagt, dass es dir nicht um mich geht, aber das hat er mir nie geglaubt. Ich wusste, dass ich dir nicht viel bedeute», sagte Lykon und wandte sich wieder in Richtung des Lagers, wo die Soldaten den Tod seines Geliebten feierten. Ich folgte ihm langsam.
«Du hast mir etwas bedeutet», sagte ich leise, aber da waren wir schon wieder von einem Pulk Menschen umringt. Lykon sah sich nach mir um und winkte mir wie ein Schwimmer in einem reißenden Strom. Ich weiß bis heute nicht, ob er mich gehört hat.
Wir waren verschwitzt und außer Atem, als wir endlich vor Thrasybulos’ großem Zelt standen. Ein Feldfeuer brannte vor seinem Eingang. Ein Hoplit hielt Wache. Mir schien, als hörte ich Stimmen im Zelt.
«Einen Augenblick, Herr», sagte der Hoplit und meldete uns.
Wir warteten. Thrasybulos’ Fahne blähte sich im Wind. Lykon war schweigsam und angespannt. Plötzlich flog der Zelteingang auf, und Thrasybulos begrüßte mich
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