Mord im Orientexpress
Gentleman?»
«Dieser gediegene amerikanische Gentleman.»
«Hm», meinte Monsieur Bouc vergnügt. «Das ist ja gut möglich. Es gibt so viel Böses auf der Welt.»
In diesem Moment ging die Tür auf, und der Portier kam zu ihnen. Er trug eine kummervolle Miene zur Schau.
«Es ist unglaublich, Monsieur», sagte er zu Poirot. «Aber in diesem Zug ist kein einziges Schlafwagenabteil erster Klasse mehr zu haben.»
«Comment?», rief Monsieur Bouc. «Um diese Jahreszeit? Ah, da ist bestimmt so eine Journalistengruppe unterwegs – oder Politiker –?»
«Ich weiß es nicht, Monsieur», wandte der Portier sich nun respektvoll an ihn. «Aber so stehen die Dinge.»
«Hm, hm.» Monsieur Bouc wandte sich an Poirot. «Aber seien Sie unbesorgt, mein Freund. Wir werden schon etwas organisieren. Es ist immer ein Abteil frei – die Nummer sechzehn – sie ist nie belegt. Dafür sorgt der Schaffner!» Er lächelte, dann sah er zur Uhr hinauf. «Kommen Sie», sagte er. «Zeit zum Aufbruch.»
Am Bahnhof wurde Monsieur Bouc von einem übereifrigen Schlafwagenschaffner in brauner Uniform respektvoll begrüßt.
«Guten Abend, Monsieur. Sie haben Abteil Nummer eins.»
Er rief die Gepäckträger herbei, und sie rollten ihre Fracht zur Mitte des Wagens, auf dem ein Blechschild die Reiseroute angab:
Istanbul – Triest – Calais
«Ich höre, wir sind voll besetzt?»
«Es ist nicht zu glauben, Monsieur. Alle Welt will heute Nacht verreisen.»
«Trotzdem müssen Sie noch einen Platz für diesen Herrn finden. Er ist ein Freund von mir. Er kann die Nummer sechzehn haben.»
«Nummer sechzehn ist leider belegt, Monsieur.»
«Wie bitte? Nummer sechzehn?»
Die beiden wechselten einen verständnisinnigen Blick, dann lächelte der Schaffner. Er war ein Mann in mittleren Jahren, hoch gewachsen und von bleichem Teint.
«Aber ja, Monsieur. Wie gesagt, wir sind voll belegt – voll – überall.»
«Aber wie kommt denn das?», fragte Monsieur Bouc gereizt. «Findet irgendwo eine Konferenz statt? Oder ist das eine Reisegesellschaft?»
«Nein, Monsieur. Reiner Zufall. Es trifft sich einfach so, dass heute vielen Leuten der Sinn nach Verreisen steht.»
Monsieur Bouc schnalzte verdrossen mit der Zunge.
«In Belgrad», sagte er dann, «wird der Kurswagen aus Athen angehängt. Auch der Wagen Bukarest-Paris – aber wir sind erst morgen Abend in Belgrad. Das Problem ist die heutige Nacht. Es ist auch kein Schlafplatz zweiter Klasse mehr frei?»
«Ein Bett zweiter Klasse ist noch frei, Monsieur.»
«Also, dann –»
«Aber das ist ein Damenabteil. Und es befindet sich schon eine Dame darin – eine deutsche Zofe.»
«Là, là, wie unangenehm», sagte Monsieur Bouc.
«Grämen Sie sich nicht, mein Freund», sagte Poirot. «Dann muss ich eben in einem normalen Abteil reisen.»
«Kommt überhaupt nicht in Frage.» Monsieur Bouc wandte sich wieder an den Schaffner. «Sind denn alle Fahrgäste da?»
«Richtig», sagte der Mann, «einer ist noch nicht da.»
Er sagte es langsam und zögernd.
«Was ist denn?»
«Bett Nummer sieben – in der zweiten Klasse. Der Herr ist noch nicht da, und es ist vier Minuten vor neun.»
«Wer ist dieser Herr?»
«Ein Engländer.» Der Schaffner sah auf seiner Liste nach. «Mr. Harris.»
«Ein gutes Omen, dieser Name», sagte Poirot. «O ja, ich habe meinen Dickens gelesen. Mr. Harris wird nicht kommen.»
«Bringen Sie Monsieur in Nummer sieben unter», befahl Monsieur Bouc. «Sollte dieser Mr. Harris noch kommen, dann sagen wir ihm, er ist zu spät – wir können die Liegeplätze nicht so lange freihalten – wir werden die Sache auf die eine oder andere Weise regeln. Was kümmert mich ein Mr. Harris?»
«Wie Monsieur befehlen», sagte der Schaffner.
Er erklärte dem Gepäckträger, wohin er Poirots Sachen zu bringen habe.
Dann gab er das Trittbrett frei, damit Poirot einsteigen konnte. «Tout à fait au bout, Monsieur», rief er. «Ganz hinten, das vorletzte Abteil.»
Poirot begab sich durch den Gang, wobei er ziemlich langsam vorankam, da die meisten Reisenden vor ihren Abteilen standen. Sein «Pardon, pardon» erklang mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks. Schließlich kam er zu dem genannten Abteil. Drinnen griff der junge Amerikaner aus dem Hotel Toka t lia gerade nach einem Koffer über sich.
Bei Poirots Eintreten runzelte er die Stirn.
«Entschuldigen Sie», sagte er, «aber ich glaube, Sie haben sich im Abteil geirrt.» Dann wiederholte er mühsam auf Französisch: «Je crois
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