Mord im Orientexpress
weiß es nicht – an Ort und Stelle beschlossen, das Todesurteil, dem Cassetti entronnen war, zu vollstrecken. Wir waren zwölf – oder eigentlich nur elf, denn Susannes Vater war ja in Frankreich. Zuerst wollten wir losen, wer von uns es tun sollte, aber dann haben wir uns am Ende für diesen Weg entschieden. Der Vorschlag kam von Antonio, dem Chauffeur. Später hat Mary zusammen mit Hector MacQueen alles ausgearbeitet. Hector hatte Sonia – meine Tochter – immer sehr verehrt, und er konnte uns auch genau erklären, wie Cassetti sich mit seinem Geld freigekauft hatte.
Es hat lange gedauert, bis unser Plan stand. Zuerst mussten wir Ratchett aufspüren. Das ist Hardman schließlich gelungen. Dann mussten wir versuchen, Masterman und MacQueen in seine Dienste zu bringen – oder wenigstens einen von ihnen. Jedenfalls haben wir auch das geschafft. Und dann haben wir uns mit Susannes Vater beraten. Colonel Arbuthnot legte großen Wert darauf, dass wir zwölf waren. Für sein Gefühl entsprach das wohl mehr der Ordnung. Die Idee, Ratchett zu erstechen, wollte ihm zuerst gar nicht gefallen, aber er sah ein, dass es die meisten unserer Probleme löste. Nun gut. Susannes Vater war bereit mitzumachen. Susanne war sein einziges Kind gewesen. Wie wir von Hector wussten, wollte Ratchett früher oder später mit dem Orientexpress aus dem Osten zurückkommen. Dass Pierre Michel auf dieser Strecke arbeitete, bot uns eine Chance, die viel zu gut war, um sie auszulassen. Außerdem konnten wir so vermeiden, dass womöglich ein Außenstehender in Schwierigkeiten kam.
Natürlich mussten wir den Mann meiner zweiten Tochter einweihen, und er ließ es sich nicht nehmen, mit ihr auf diese Reise zu gehen. Hector konnte es so deichseln, dass Ratchett den richtigen Tag für die Reise wählte, nämlich einen, an dem Michel im Zug war. Wir wollten den ganzen Wagen Istanbul-Calais belegen, aber eines der Abteile konnten wir dummerweise nicht bekommen. Es war schon lange im Voraus für einen Direktor der Gesellschaft reserviert worden. Mr. Harris war natürlich eine Erfindung. Es wäre ja ungeschickt gewesen, einen Fremden in Hectors Abteil zu haben. Und dann kamen in allerletzter Minute Sie …»
Sie machte eine kleine Pause.
«So», sagte sie dann, «jetzt wissen Sie alles, Monsieur Poirot. Was werden Sie nun damit anfangen? Wenn schon alles herauskommen muss, könnten Sie die Schuld dann nicht mir, nur mir allein zuschieben? Mit Freuden hätte ich diesen Mann auch zwölfmal erstochen! Er hatte nicht nur den Tod meiner Tochter und ihres Kindes und des anderen Kindes auf dem Gewissen, das jetzt leben und glücklich sein könnte. Es war noch mehr. Vor Daisy waren schon andere Kinder ermordet worden – und es hätte in Zukunft weitere treffen können. Die Gesellschaft hatte ihn verurteilt; wir waren nur die Vollstrecker dieses Urteils. Aber es ist nicht nötig, die anderen alle mit hineinzuziehen. Alle diese lieben, treuen Freunde – und den armen Michel – und Mary und Colonel Arbuthnot – sie lieben sich…»
Ihre wundervolle Stimme tönte durch den überfüllten Speisewagen – so tief, so gefühlvoll und ans Herz gehend, dass sie schon manches New Yorker Publikum verzaubert hatte.
Poirot sah seinen Freund an.
«Sie sind ein Direktor der Gesellschaft, Monsieur Bouc», sagte er. «Was ist Ihre Meinung?»
Monsieur Bouc räusperte sich.
«Nach meiner Ansicht, Monsieur Poirot», sagte er, «ist die erste Theorie, die Sie uns unterbreitet haben, die richtige – sie ist es ganz bestimmt. Ich schlage vor, wir bieten diese Lösung der jugoslawischen Polizei an, wenn sie eintrifft. Sind Sie damit einverstanden, Doktor?»
«Selbstverständlich bin ich damit einverstanden», sagte Dr. Constantine. «Was die medizinischen Befunde angeht, da habe ich mich – äh – wohl zu der einen oder anderen irrigen Vermutung hinreißen lassen.»
«Gut so», sagte Monsieur Poirot. «Nachdem ich Ihnen also meine Lösung unterbreitet habe, werde ich nunmehr die Ehre haben, mich von dem Fall zurückzuziehen…»
Über dieses Buch
M urder on the Orient Express wurde in der Originalausgabe erstmals 1934 von Collins in London veröffentlicht. Auf Deutsch erschien der Roman zunächst unter dem Titel «Der rote Kimono», dann 1991 (vorher bei Goldmann) mit dem Titel «Mord im Orientexpress» im Scherz Verlag. Es ist einer der besten und meistgelesenen Romane der Autorin.
Nach der Scheidung (1928) von ihrem ersten Mann, Colonel Archibald Christie,
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