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Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
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Jahre alt und sah nicht nur eigenwillig aus, sondern verhielt sich auch so. Ihre ganze Leidenschaft galt dem Zeichnen. Etwas anderes interessierte sie nicht, und sie trug ständig einen Skizzenblock mit sich herum. Mit Vorliebe zeichnete sie tote Vögel, Beerdigungen, Hautquetschungen, verendete Wildschweine und ähnlich morbide Motive. Bei unserer ersten Begegnung in ›Klein-Sanssouci‹ starrte sie mich so lange an, dass es mir unangenehm wurde. Dann fragte sie, ob sie mich porträtieren dürfe. Ich willigte ein. Was hätte ich auch sonst sagen sollen? Das erste Porträt gefiel ihr nicht. Sie zerriss es und wollte gleich ein neues anfangen. Die Sitzung hatte schon zwei Stunden gedauert, und ich hatte keine Lust mehr. So vertröstete ich sie aus lauter Höflichkeit auf den nächsten Tag. Ich hatte gehofft, dass sich ihr Interesse legen würde, aber da hatte ich mich geirrt. Am nächsten Morgen stand sie kurz nach Sonnenaufgang vor unserer Haustür und wollte beginnen.«
    »Ganz schön hartnäckig«, sagte Moses.
    »Ich wurde etwas deutlicher und gab ihr zu verstehen, dass das Rumsitzen mich langweilen würde. Sie sagte daraufhin, dass sie mich auch bei bestimmten Tätigkeiten zeichnen könne. Beim Rasieren, beim Mittagessen, beim Hochradfahren, beim Boule- oder Federballspiel und beim Rudern auf dem Wannsee. Ich solle sie gar nicht beachten. Sie würde Skizzen anfertigen, die sie später ausarbeiten wolle.«
    »Und?«, fragte Moses. »Hast du dich drauf eingelassen?«
    »Es schien ihr so wichtig zu sein, und du weißt ja, wie ich bin. In jenem Sommer war mein Jugendfreund, Jean-Paul Beyer, häufig zu Gast. Wir vertrieben uns die Zeit mit verschiedenen Unternehmungen, und Igraine war immer mit von der Partie. Ihre Anwesenheit war uns nicht unangenehm. Sie war immer so still und konzentriert beim Zeichnen, dass wir sie kaum bemerkten. Wir unterhielten uns so ungezwungen, als wäre sie nicht da. Jean-Paul Beyer war damals auf der Suche nach amourösen Abenteuern und hatte es auf eine Blumenverkäuferin abgesehen, die vor der Universität schöne Sträuße verkaufte. An einem besonders heißen Tag berichtete er mir von seinen Fortschritten. Er hatte sie zu einer Bootstour auf der Spree eingeladen. Und als ich ihn am Abend verabschiedet hatte, blieb Igraine noch, um mir ihre neuesten Zeichnungen zu zeigen. Ich sah mir die Bilder an und war verblüfft über ihr Talent. An diesem Abend sah ich das Mädchen zum letzten Mal.«
    »Wieso?«, fragte Moses. »Was ist passiert?«
    »Irgendwann blickte sie mich an und fragte, ob ich auch Blumenverkäuferinnen nachstellen würde. Ich hatte bestimmt nicht vor, meine dürftigen Erfahrungen in Liebesdingen vor einem vierzehnjährigen Mädchen auszubreiten. Deshalb erwiderte ich nur: ›Nein!‹ Sie habe auch nichts anderes erwartet, sagte sie mit einem selbstsicheren Lächeln, reichte mir einen weiteren Bogen Papier und erzählte beiläufig, dass ihre Eltern ihre Nerven zurzeit strapazieren würden. Sie würden darauf drängen, dass sie eine Benimmschule besuche, ihr Klavierspiel verbessere und Konversationskurse belege. Das Zeichnen würden sie ihr verbieten, wenn sie sich nicht endlich benähme, wie es sich für eine Tochter aus höherem Haus gezieme. Bei mir habe sie das Gefühl, dass sie sich frei entfalten könne. Deshalb habe sie sich entschieden, mich zu heiraten. Ich solle am besten in den nächsten Tagen bei ihrem Vater vorsprechen, der mich sicher als Bräutigam akzeptieren würde. Ich käme aus einer standesgemäßen Familie, als Arzt würde ich ein akzeptables Auskommen haben, und überhaupt würden wir nur noch ein oder zwei Jahre warten müssen, ehe wir das Aufgebot bestellen könnten. Für sie war die Angelegenheit beschlossene Sache, ohne dass sie mich überhaupt gefragt hatte. Im Bewusstsein ihrer baldigen Freiheit strahlte sie mich an.«
    »Oje«, sagte Moses.
    »Damals hatte ich noch keine Vorstellung, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, aber es lag mir fern, mich mit einem vierzehnjährigen Mädchen zu verloben, das mit Vorliebe tote Vögel zeichnete. So versuchte ich, ihr behutsam klarzumachen, dass zum Führen einer Ehe mehr gehöre, als freie Zeit zum Zeichnen zu haben. Sie stimmte mir sofort zu und meinte, dass ich sicher die Sache mit dem Ehebett meinen würde. Noch sei sie etwas jung, aber wenn wir erst verheiratet wären, würde sie selbstverständlich ihren Verpflichtungen nachkommen. So langsam wurde mir das Gespräch unangenehm, und ich wurde etwas

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