Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
deutlicher. Eine Vernunftehe käme für mich nicht in Frage, sagte ich. Ich könne mir nicht vorstellen, mein ganzes Leben mit einem Menschen zu verbringen, dem ich nicht von Herzen zugewandt wäre. Sie sah mich erstaunt an und fragte mich, warum ich ihr all die Wochen erlaubt hätte, in meiner Nähe zu sein und Zeichnungen anzufertigen. Natürlich aus Höflichkeit, erwiderte ich und begriff, dass ein solches Verhalten ihr völlig fremd sein musste. In allem, was sie sagte und machte, war sie vollkommen bei sich. Sie sah mich lange an, sammelte ihre Zeichnungen ein und sagte, dass sie jetzt gehen würde. Ich könne sie jederzeit besuchen, aber nur, wenn ich auch Zeit mit ihr verbringen wolle. Einen Höflichkeitsbesuch könnte ich mir sparen.«
»Das war’s?«, fragte Moses.
»Das war’s«, erwiderte Otto.
»Und jetzt ist sie Zeichenlehrerin an der Malschule«, sagte Moses. »Wie wird es sein, sie nach so vielen Jahren wiederzusehen?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, erwiderte Otto.
Er veränderte seine Sitzposition und blickte zum Lustgarten, wo sich rund um das Reiterstandbild von Friedrich Wilhelm III . viele Schaulustige eingefunden hatten.
»Wenn das nicht unser Don Quichotto ist!«, rief ein Droschkenkutscher vom Halteplatz herüber.
Otto war hocherfreut, dass man ihn noch erkannte. Er erhob sich leicht und deutete eine Verbeugung an. Der Spitzname »Don Quichotto« spielte auf seine Versuche an, die Straße Unter den Linden trotz eines Verbots für den Zweiradverkehr mit dem Fahrrad zu bezwingen und so einen moralischen Sieg für die Radsportbewegung zu erringen. Er hatte es nie bis zum Brandenburger Tor geschafft. Seine Versuche hatten immer mit einem Bußgeld, einmal sogar mit einer Gefängnisstrafe geendet. Mittlerweile war das gesamte Stadtgebiet offiziell für den Zweiradverkehr freigegeben worden, aber einige Straßen und Plätze, wo aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens eine erhöhte Unfallgefahr bestand, waren von dieser Erlaubnis ausgenommen worden. Darunter fielen auch der Pariser Platz, Unter den Linden und die Plätze am Opernhaus und am Zeughaus. »Seine Strecke« war also immer noch gesperrt. Trotzdem sah sich Otto als Sieger. Lange vor den Behörden hatte er das Potenzial des Zweirads erkannt. Heute hatte es sich zu einem beliebten Fortbewegungsmittel entwickelt. Radfahrer galten nicht mehr als Querulanten, sondern als Verkehrsteilnehmer.
Nachdem der Droschkenkutscher den Landauer vor einem Mietshaus in der Potsdamer Straße zum Stehen gebracht hatte, bezahlte Otto den Fahrpreis und sprang auf das Trottoir. Moses klagte über Hunger, und so erlaubte er ihm, in einer benachbarten Restauration einige Soleier zu essen. Er selbst begab sich zur Malschule und traf auf einen Mann, der gerade den Hinterhof reinigte. Mit einer Schaufel und einem Strohbesen las er Pferdeäpfel auf und füllte sie in einen Eimer.
»Können Sie mir sagen, ob ich noch jemanden von den Lehrern antreffen kann?«, fragte Otto.
»Walter Leiser mein Name«, sagte der Mann und nahm Haltung an, als würde er mit einem höherrangigen Offizier sprechen. »Ich bin der Hausmeister. Zu wem wollen Sie?« Helle buschige Augenbrauen beschatteten Eulenaugen, die von gräulichen Ringen umgeben waren und starr dreinblickten. Die zartrosa Lippen waren voll, hatten klare Konturen und wiesen einen empfindsamen Schwung auf. Unter dem grauen Uniformrock trug er einen weißen Stehkragen.
»Zu Fräulein Igraine Raab«, erwiderte Otto.
»Das gnädige Fräulein ist gegen Mittag zum Gut Neukladow aufgebrochen, wo sie für eine Freundin einhütet. Sind Sie an ihren Bildern interessiert?«
Otto war also vergeblich gekommen. Andererseits war er gespannt, wie sich Igraines Malstil in der Zwischenzeit verändert hatte. »Sehr sogar«, erwiderte er.
»Dann folgen Sie mir«, sagte der Hausmeister und ging auf einen mehrstöckigen roten Backsteinbau zu. »Das gnädige Fräulein hat mich befugt, ihre Bilder Kaufinteressenten zu zeigen. Es ist eine große Chance, dass sie eine Einzelausstellung im Kunstsalon Eduard Schulte hat.«
Oha!, dachte Otto. Dann musste sich Igraine in der Zwischenzeit einen Namen gemacht haben. Der Kunstsalon Eduard Schulte residierte im Palais Redern, Unter den Linden Nummer 1, und war die bekannteste kommerzielle Galerie Berlins. Neben zahlreichen namhaften Künstlern stellte sie die Vereinigung der XI aus, die neben der Münchner Secession die wohl bedeutendste Künstlergruppe Deutschlands war. »Wann
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