Mord in Mesopotamien
vertuschen können; aber seine Karriere hing vielleicht dennoch an einem Faden, da er, wenn etwas von seiner früheren Verfehlung ruchbar wurde, ein ruinierter Mann wäre. Und da war nun Mrs Leidner im Haus, eine hochintelligente und machthungrige Frau. Sie hätte den zermürbten Mann dazu bringen können, ihr Vertrauen zu schenken, ihr alles zu gestehen. Dann wäre er in ihrer Macht gewesen. – Hier also war ein Motiv für die Mercados. Um ihren Mann zu schützen, ist Mrs Mercado zu allem fähig. Beide, sie und ihr Mann, hatten während der berühmten zehn Minuten, als niemand im Hof war, die Möglichkeit, die Tat zu begehen.»
Mrs Mercado schrie: «Das ist nicht wahr!»
Poirot schenkte ihr keine Beachtung.
«Die Nächste, die ich unter die Lupe nahm, war Miss Johnson. War sie zu einem Mord fähig? Ich glaube, ja. Sie war ein Mensch mit starker Willenskraft und eiserner Selbstdisziplin. Solche Menschen beherrschen sich ständig, doch eines Tages kann der Damm brechen. Wenn aber Miss Johnson den Mord begangen hätte, dann nur aus Gründen, die mit Dr. Leidner zusammenhängen. Wenn sie der Meinung gewesen ist, dass Mrs Leidner das Leben ihres Mannes verpfuscht habe, dann ist es möglich, dass ihre Eifersucht, die tief in ihrem Unterbewusstsein schwelte, hätte ausbrechen und sich austoben können. Jawohl, Miss Johnson war unbedingt fähig zu der Tat.
Nun kommen wir zu den drei jungen Leuten.
Zuerst Carl Reiter. Wenn eines der Expeditionsmitglieder William Bosner sein sollte, dann am ehesten Reiter. Doch wenn er William Bosner ist, wäre er ein hervorragender Schauspieler. Und wenn er wirklich Carl Reiter ist, hatte er dann einen Grund zu diesem Mord?
Konnte Carl Reiter, den Mrs Leidner ständig quälte, vielleicht durch diese Behandlung dazu gebracht werden, sie zu ermorden? Demütigung verleitet Männer zu merkwürdigen Dingen. Es könnte also durchaus sein, dass er den Mord verübt hat.
Dann William Coleman. Sein Verhalten, nach den Angaben von Miss Reilly, ist natürlich verdächtig. Wenn er der Mörder war, dann nur, wenn sich hinter seiner fröhlichen Person William Bosner verbirgt. Ich glaube aber nicht, dass William Coleman als William Coleman die Veranlagung eines Mörders hat. Seine Fehler liegen anderswo.
Jetzt bleibt von den drei jungen Leuten noch Mr Emmott. Auch hinter ihm könnte sich William Bosner verbergen. Was für Gefühle er auch für Mrs Leidner hegen mochte, ich war mir sofort bewusst, dass ich von ihm nichts darüber erfahren würde. Von allen Expeditionsmitgliedern scheint er Mrs Leidner am besten gekannt zu haben. Ich glaube, dass er ganz genau wusste, was für ein Mensch sie war, ich konnte aber nicht feststellen, was für einen Eindruck sie auf ihn gemacht hat. Ich glaube jedoch, dass Mrs Leidner sein Verhalten außerordentlich reizte.
Ich möchte sagen, dass von allen Expeditionsmitgliedern, was Charakter wie Fähigkeiten anbelangt, Mr Emmott derjenige ist, der am ehesten imstande wäre, einen wohlüberlegten Mord zu begehen.»
Zum ersten Mal blickte Mr Emmott auf und sagte: «Danke schön.» Seine Stimme klang leicht amüsiert.
«Die Letzten auf meiner Liste sind Richard Carey und Pater Lavigny», fuhr Poirot fort.
«Nach der Aussage von Schwester Leatheran und anderen konnten Mr Carey und Mrs Leidner sich nicht leiden. Miss Reilly hingegen äußerte über diese kalte Höflichkeit eine ganz andere Theorie. Und bald hegte ich keinen Zweifel mehr, dass sie Recht hatte. Wie ich nach kurzer Zeit feststellte, befand sich Mr Carey in einem Zustand höchster Erregung, er stand dicht vor einem Nervenzusammenbruch. Er sagte mir mit einem Ernst, an dem ich keinen Moment zweifelte, dass er Mrs Leidner gehasst habe. Zweifellos sprach er die Wahrheit. Er hasste Mrs Leidner. Aber warum?
Es gibt nicht nur Frauen, die auf viele Männer eine große Anziehungskraft ausüben, sondern auch Männer, die die gleiche Anziehungskraft auf Frauen ausüben. Das nennt man heute ‹Sex-Appeal›. Und diese Eigenschaft besitzt Mr Carey in hohem Maße. Er verehrte seinen Freund und Vorgesetzten und verhielt sich zunächst dessen Frau gegenüber gleichgültig. Das gefiel aber Mrs Leidner nicht; sie musste dominieren. Und so setzte sie alles daran, Richard Carey zu bezirzen. Doch dann geschah etwas völlig Unerwartetes: Sie selbst wurde, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, das Opfer einer überwältigenden Leidenschaft. Sie begann Richard Carey heftig zu lieben.
Und er, er konnte ihr nicht
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