Mord in Mesopotamien
Lavigny musste krankheitshalber telegrafisch absagen, und es gelang Menier, in den Besitz dieses Schreibens zu gelangen und an dessen Stelle eine Zusage zu senden. Er fühlte sich dabei vollkommen sicher, denn selbst wenn die Mönche durch Zufall aus Zeitungen erfahren sollten, dass Pater Lavigny im Irak sei, würden sie das für eine Zeitungsente halten.
Menier und sein Komplize – der dann bei der Erkundung des Antiquitätenzimmers gesehen wurde – kamen hierher und arbeiteten zusammen; Pater Lavignys Aufgabe war es, die Wachsabdrücke zu machen, nach denen Ali die Kopien anfertigte, und das tat er natürlich nachts. Unzweifelhaft war er damit beschäftigt, als Mrs Leidner ihn hörte und Alarm schlug. Was sollte er tun? Er behauptete einfach, im Antiquitätenzimmer Licht gesehen zu haben.
Das wurde, wie man zu sagen pflegt, geschluckt, doch Mrs Leidner war nicht so dumm. Sie hatte die Wachsspuren gesehen und sich alles zusammengereimt. Und lag es nicht in ihrem Charakter, zunächst alles für sich zu behalten und Pater Lavigny ihre Macht fühlen zu lassen? Vermutlich ließ sie ihn merken, dass sie Verdacht geschöpft hatte, nicht aber, dass sie etwas wusste. Es war ein gefährliches Spiel, aber es machte ihr Spaß. Und vielleicht trieb sie das Spiel zu weit: Pater Lavigny kommt dahinter und schlägt sie nieder.
Pater Lavigny ist Raoul Menier – ein Dieb. Ist er aber auch ein Mörder?»
Poirot schritt durch das Zimmer, wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn ab und sprach dann weiter: «So sah heute Morgen für mich die Situation aus. Es gab acht Theorien, und ich wusste nicht, welche die Richtige war. Ich wusste immer noch nicht, wer der Mörder war.
Aber Mord wird zur Gewohnheit. Wer einmal einen Mord verübt hat, mordet wieder.
Durch den Zweiten wurde der Mörder überführt.
Die ganze Zeit über fürchtete ich, dass einer der Anwesenden etwas über den Mörder wisse und dieses Wissen für sich behalte. Dieser Betreffende war in Gefahr. Ich dachte dabei vor allem an Schwester Leatheran, eine energische Persönlichkeit mit einem lebhaften, wissbegierigen Geist. Wie Sie alle wissen, wurde ein zweiter Mord verübt, doch das Opfer war nicht Schwester Leatheran – es war Miss Johnson.
Somit schied sie als Mörder aus, denn ich glaubte keine Sekunde an Selbstmord.
Wir wollen die Fakten dieses zweiten Mordes zusammenstellen:
1. Am Sonntagabend findet Schwester Leatheran Miss Johnson in Tränen aufgelöst, und am selben Abend verbrennt Miss Johnson einen Brief, der, wie die Schwester annimmt, die Handschrift des anonymen Briefschreibers aufwies.
2. Am Abend vor Miss Johnsons Tod trifft Schwester Leatheran sie auf dem Dach stehend, starr vor Entsetzen. Auf die Frage der Schwester antwortet sie: ‹Ich habe gesehen, dass jemand von draußen hereinkommen kann… unbemerkt.› Mehr will sie nicht sagen. Pater Lavigny geht gerade über den Hof, und Mr Reiter steht in der Tür des Fotoateliers.
3. Miss Johnson wird sterbend aufgefunden. Das Einzige, was sie noch sagen kann, ist ‹Das Fenster… das Fenster›. Das sind die Tatsachen, und wir sehen uns folgenden Problemen gegenüber:
Was für eine Bewandtnis hatte es mit dem Brief?
Was sah Miss Johnson, als sie auf dem Dach stand? Was meinte sie mit ‹Das Fenster… das Fenster›?
Eh bien, wir wollen die zweite Frage, als die leichteste, zuerst beantworten. Ich ging mit Schwester Leatheran aufs Dach und stellte mich genau dorthin, wo Miss Johnson gestanden hatte. Sie konnte von dieser Stelle den Hof, das Tor, die Nordseite des Gebäudes und zwei Mitglieder der Expedition sehen. Hatte sie Mr Reiter oder Pater Lavigny gemeint?
Blitzartig kam mir die Erleuchtung: Wenn ein Fremder von außen hereingekommen wäre, dann nur in Verkleidung; Pater Lavigny – mit einem Tropenhelm, Sonnenbrille, schwarzem Bart und der langen Mönchskutte – konnte jedoch ohne weiteres durchkommen, ohne dass die Dienstboten ihn als Fremden betrachten würden.
Hatte Miss Johnson das gemeint? Oder war sie weitergegangen? War ihr klar geworden, dass Pater Lavigny ein Betrüger war und nicht der, für den er sich ausgab?
Aufgrund dessen, was ich inzwischen über den Pater erfahren hatte, neigte ich dazu, das Rätsel für gelöst zu halten. Raoul Menier war der Mörder, er hatte Mrs Leidner umgebracht, um sie zum Schweigen zu bringen, bevor sie ihn anzeigen konnte. Nun hatte aber ein Mensch dieses Geheimnis erraten, also musste auch Miss Johnson beseitigt werden. Um den Verdacht
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