Mord Wirft Lange Schatten: Mitchell& Markbys Dreizehnter Fall
bereits dunkel geworden. Sie hatte sich an der Straßenecke von ihrer letzten Begleiterin verabschiedet und war den Rest des Weges alleine gegangen.
Hinter den Fenstern leuchteten Gaslampen und hier und da eine flackernde Kerze, weil nicht jeder in Bamford das moderne Licht hatte. Der Laternenanzünder hatte diesen Teil der Stadt auf seiner Runde noch nicht erreicht, und keine Straßenbeleuchtung verdrängte die zunehmende Dunkelheit. Im Allgemeinen fühlte sich Emily in der Dunkelheit wohl, weil sie bedeutete, dass niemand sie beachtete. Trotzdem wurde sie jedes Mal nervös, wenn sie an einem der zahlreichen öffentlichen Gasthäuser vorbeikam.
Es geschah jedoch nichts Unerwartetes, bis sie das Crown erreicht hatte, das sowohl ein Gasthaus war als auch ein Ort, an dem die Gentlemen tranken, wenn sie Lust verspürten, dies außerhalb ihres Heims zu tun. Es hieß, im Crown gäbe es ein geheimes Hinterzimmer, wo jene Gentlemen um hohe Beträge Karten spielten, was in der Methodistengemeinde mit großer Missbilligung gesehen wurde.
Emily hatte das Crown fast erreicht, als plötzlich eine Seitentür aufgestoßen wurde und ein heller Lichtstrahl auf die Straße fiel. Zwei Gestalten stolperten auf den Bürgersteig, die eine etwas jünger, die andere etwas älter. Der jüngere der beiden Männer hielt seinen Hut in der Hand, und Emily sah sein Gesicht, ein hübsches, kesses, schnurrbärtiges Gesicht, das Emily wohl niemals wieder vergessen würde. Automatisch war sie in einen nahe liegenden Eingang gesprungen, und nun kamen die beiden Männer unsicheren Schrittes in ihre Richtung. Sie duckte sich tief in den Schatten.
»Nimm meinen Rat an, mein Freund«, drängte der ältere der beiden.
»Mach es wieder gut bei ihr. Unternimm eine kleine Reise ins Ausland mit ihr, eh? Nimm sie mit nach Paris, wo sie sich ein paar hübsche neue Kleider kaufen kann. Oder in die Alpen, das ist gut für die Lunge.«
»Wenn es doch nur so verdammt einfach wäre! Meinst du nicht, daran hätte ich nicht auch schon gedacht?«, kam die ärgerliche Antwort.
»Sie hört nicht mehr auf das, was ich ihr sage. Sie redet von Scheidung! Sie sagt, sie hätte Beweise … Was soll ich denn verdammt noch mal tun, wenn es stimmt?«
»Du musst eben die Situation in den Griff kriegen, mein Freund.« Den dahingeworfenen Worten folgte ein betrunkener Schluckauf.
»Glaub mir, das versuche ich ja!«
Sie stolperten in die Dunkelheit davon. Emily trat zitternd aus dem dunklen Eingang und hastete nach Hause. Sie hatte ihrem Vater gegenüber nichts davon erzählt, der inzwischen bereits zu Hause gewesen war und sich Sorgen gemacht hatte, weil sie so spät kam. Doch als Oakley vor Gericht gestellt worden war, hatte sie gewusst, dass sie hinfahren musste, um ihn zu sehen, um mit eigenen Augen zu sehen, dass es der gleiche Mann war.
Es war der gleiche Mann, der dort trotzig und herausfordernd auf der Anklagebank saß. Emily hatte ihrem Vater gegenüber weiterhin geschwiegen. Angenommen, größtes aller vorstellbaren Entsetzen, es hätte damit geendet, dass sie in den Zeugenstand gerufen worden wäre? Was hätte sie schon sagen können? Es war dunkel gewesen. Der Verteidiger hätte behauptet, sie hätte sich geirrt und jemand anders gesehen. Außerdem war hinreichend bekannt, dass ein Mann unter dem Einfluss von Alkohol jede Menge dummes Zeug redete. Emily hatte nicht wissen können, dass er seine Frau gemeint hatte.
So hatte sie ihren Mund gehalten und sich immer wieder gesagt, dass die Gerechtigkeit auch ohne sie die Wahrheit finden würde. Nun lastete sie auf ihrem Gewissen zusammen mit dem Wissen, dass sie es jetzt niemals ihrem Vater würde erzählen können. Es war das erste und einzige Geheimnis, das sie jemals vor ihm gehabt hatte und haben würde. Nein, es war das erste Geheimnis gewesen. Jetzt hatte sie ein weiteres Geheimnis – ihre Begegnung mit Stanley Huxtable. Auch dieses Geheimnis musste sie vor ihrem Vater verbergen. Jonathan Wood hatte wenig übrig für den Mann von der Zeitung.
»Das passiert nun mal, wenn du dieses Haus verlässt, Emily, mein Mädchen!«, sagte sie laut zu sich selbst.
»Das Leben wird kompliziert.«
Unbestreitbar wurde es allerdings auch sehr viel interessanter.
Später an jenem Abend ging auch Inspector Wood nach Hause, eine Spätausgabe der Bamford Gazette unter dem Arm. Sie hatten also versagt. Das Home Office hatte versagt. Der Anwalt der Krone hatte versagt. Die Polizei hatte versagt – wen kümmerte es, wer
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