Mord
gegangen, der ihn röntgte.
Das neue Jahr kam, der Schnee lag hoch, die Schmerzen in Alexanders Brust waren immer noch da. Essen konnte er, Appetit hatte er. Aber er schlief schlecht, weil die Schmerzen sich wieder meldeten und er sich Sorgen machte wegen der Fahrt und wegen des Sohnes, der so verschlossen war und bei dem irgendwas am Herzen nicht stimmte. Die Krankheit des Sohnes nagte seit Jahren an Alexander. Die Tochter war in Ordnung, aber sie erzählte auch nicht, was sie dachte und wollte. Der Sohn war jetzt 16 , Alexander mühte sich, ein guter Vater zu sein, aber Niko ließ ihn nicht an sich heran. Er war nicht frech, nicht respektlos, aber sein Schweigen wirkte wie unausgesprochene Kritik. Kritik woran?
Das mit dem Herzen hatte vor zwei Jahren begonnen, Niko wurde vom Sport befreit. Monatlich musste er zur Kontrolle gehen, wurde jeden Monat zum Arzt bestellt. Was genau nicht stimmte, wusste Alexander nicht, man sagte ihm, dass immer ein EKG gemacht würde. Gewöhnlich ging seine Frau mit ins Arztzimmer, eigentlich immer.
Wenn Niko von der Schule kam, ging er oft gleich zu Schulfreunden, zu anderen Jungen im Dorf. Das war ja eigentlich ganz normal. Er hatte dem Sohn nur gesagt, dass er nicht alleine in die Rayonsstadt fahren solle. Eigentlich war es ja nicht schwierig mit dem Sohn, Niko machte immer, was er machen sollte. Er war halt gern allein, malte, bastelte, wollte dabei nicht vom Vater gestört werden. Ach, der Sohn war ganz normal.
Die Nächte zogen sich hin, Alexander wurde immer wieder wach, konnte noch nicht aufstehen, lag da, ab und zu weckte er seine Frau, damit sie ihm ein bisschen Mut machte, ihn beruhigte, sie konnte das. Er versuchte, ein Buch zu lesen. Wenn er las, wurde er müde, wenn er das Buch zur Seite legte, konnte er wieder nicht einschlafen. Er machte sich alle möglichen Gedanken, wie er sich anziehen sollte, was für ein Wetter wohl in Deutschland sein würde. In Kasachstan war es im Februar sehr kalt; wenn er nach Deutschland käme, würde er dort keine Sachen kaufen können, weil er kein Geld dafür hatte. Und wie seine Frau allein mit den Kindern zurechtkommen würde, solange er in Deutschland war. Die finanzielle Lage der Familie war kritisch. Einige Kunden hatten die Lieferungen von Sonnenblumenkernen nicht bezahlt, stattdessen die Familie bedroht und eingeschüchtert. Er verlangte deshalb von der Frau und den Kindern, nicht weiter zu verkaufen, solange er weg war, um nicht in Gefahr zu geraten. Allerdings wusste er nicht, wovon die Familie leben sollte.
Die Sorgen gingen den ganzen Tag weiter. Wenn Alexander morgens aufgestanden war, ging die Frau zusammen mit der Tochter zum Markt, um Sonnenblumenkerne zu verkaufen. Er blieb mit dem Sohn zu Hause, damit dieser ihm helfen konnte. Mittags kamen die Frau und die Tochter nach Hause. Bei Tisch besprachen die Erwachsenen, wie die Lage war. Es gab immer Probleme: Der Sturz auf die Gleise, der Rippenbruch, die Schmerzen blockierten seine Kräfte. Er schaffte es nicht, alles für die Familie zu regeln, was Vorräte und Holz anging; Niko wollte er nicht das Holzhacken überlassen, wer weiß, das Herz.
Und am Abend vor der Abreise, am Freitagabend, am 6 . Februar, kam dann der Bruder zu ihm, Robert, und sagte, dass er nicht mitfahren könne. Dass das beantragte Visum immer noch nicht gekommen sei. Das war für Alexander wie ein Schlag mit der Axt. Er war auch nicht sicher, ob er dem Bruder glauben sollte. Aber was nützte es ihm, wenn er zweifelte; er sagte nichts, blickte verbissen zu Boden. Es gab wohl keine Rettung, er musste fahren, allein.
Am Samstag frühmorgens brachte ihn der Bruder mit seinem Gepäck nach Iljenko, seine Frau war dabei und drückte ihm zum Schluss die Tasche mit der Thermoskanne und all den Essenssachen für die Reise in die Hand, der Koffer war da schon in den Bauch des Busses verladen. Um Punkt 9 Uhr 30 startete der Linienbus nach Deutschland; es war Februar, das Thermometer zeigte minus 22 Grad an. Der Bus aber war gut geheizt, und zur Erleichterung von Alexander schmerzten die Rippen nicht, als er dann saß. Nur ganz selten, wenn er schnelle Bewegungen machte und sich nach dem Gepäckfach über ihm streckte, zwickte es an der rechten Seite. Mit seinen 1 Meter 80 Größe hatte Alexander keine Mühen, mit dem Platz auszukommen, er war nicht dick, und nur wenn er etwas nach vorn rutschte, stieß er mit der Kniescheibe an den dicken Draht, der die Tasche an der Rückseite des Vordersitzes
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