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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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dieser Stunde war die Wall Street völlig verlassen.
    Nach dem Abschied von Freud war ich direkt zu den Actons gefahren. Mrs. Biggs begrüßte mich wie einen alten Freund. Von Harcourt und Mildred Acton war nichts zu sehen; offenbar wollten sie keine Besucher empfangen. Ich erkundigte mich, wie es Nora ging. Nachdem Mrs. Biggs geräuschvoll den Rückzug angetreten hatte, kam Nora herunter.
    Wir fanden beide keine Worte. Schließlich fragte ich, ob sie Lust auf einen Spaziergang hatte. Ich gab ihr zu verstehen, dass es medizinisch ratsam war. Plötzlich war ich mir sicher, dass sie ablehnen und dass ich sie nie mehr wiedersehen würde.
    »In Ordnung«, antwortete sie.
    Der Regen hatte aufgehört. Der Geruch nach feuchtem Asphalt, der in der Stadt als Frische gilt, erhob sich angenehm in die Luft. Im Zentrum wurde der Asphalt zu Kopfsteinpflaster. Es waren keine Automobile und Omnibusse zu sehen, und das Klappern ferner Pferdehufe erinnerte mich an das New York, das ich als Junge gekannt hatte. Wir redeten nur wenig.
    Der Türsteher vor dem Gillender Building hörte, dass wir die berühmte Aussicht genießen wollten, und ließ uns ein. Oben im Kuppelsaal auf der achtzehnten Etage gingen vier große Spitzfenster auf die Stadt, jedes in eine andere Himmelsrichtung. Im Norden sahen wir kilometerlang das immer weiter sich erstreckende, elektrisch erleuchtete Manhattan; im Süden waren die Inselspitze, das Wasser und die brennende Fackel der Freiheitsstatue zu erkennen.
    »Schon in wenigen Tagen werden sie es abreißen«, bemerkte ich. Als es 1897 erbaut wurde, war das Gillender Building einer der höchsten Wolkenkratzer von Manhattan. Mit seiner schlanken Silhouette und seinen klassischen Proportionen gehörte es auch zu den am meisten bewunderten Gebäuden der Stadt. »Es wird das größte Haus der Menschheitsgeschichte sein, das jemals niedergerissen wurde.«
    »Waren Sie schon mal glücklich?«, fragte mich Nora unvermittelt.
    Ich überlegte. »Dr. Freud meint, man wird unglücklich, wenn man sich nicht von seinen Erinnerungen lösen kann.«
    »Und sagt er auch, wie man sich von seinen Erinnerungen lösen kann?«
    »Indem man sich daran erinnert.«
    Wir schwiegen eine Weile.
    »Das klingt nicht sehr logisch, Dr. Younger.«
    »Nein.«
    Nora deutete auf ein Dach, das ungefähr einen Block weit im Norden lag. »Sehen Sie, das ist das Hanover Building, wo mich Mr. Banwell vor drei Jahren zu einem Kuss gezwungen hat.«
    Ich blieb stumm.
    »Haben Sie das gewusst? Haben Sie gewusst, dass ich es von hier aus sehen kann?«
    Wieder antwortete ich nicht.
    »Sie behandeln mich noch immer«, sagte Nora.
    »Ich habe Sie nie behandelt.«
    Sie ließ den Blick schweifen. »Ich war so dumm.«
    »Nicht halb so dumm wie ich.«
    »Was werden Sie jetzt tun?«
    »Nach Worcester zurückkehren. Als Arzt praktizieren. Die Studenten kommen schon in wenigen Wochen wieder.«
    »Meine Kurse fangen am Vierundzwanzigsten an«, erwiderte Nora.
    »Sie gehen also wirklich ans Barnard College?«
    »Ja. Meine Lehrbücher habe ich bereits gekauft. Ich ziehe bei meinen Eltern aus. Ich werde im Norden wohnen, in einem Studentenheim, das Brooks Hall heißt.«
    »Und was wollen Sie am Barnard College studieren, Miss Acton? Die Frauenfiguren bei Shakespeare?«
    »Sie werden lachen«, erklärte sie leichthin, »aber ich werde mich wohl auf elisabethanisches Drama und Psychologie konzentrieren. Ach ja, und Kriminalermittlung.«
    »Eine absurde Interessenkombination. Das wird niemand ernst nehmen.«
    Erneut trat eine Pause ein.
    Schließlich ergriff ich wieder das Wort. »Dann sollten wir uns wohl allmählich voneinander verabschieden.«
    »Ich war schon einmal in meinem Leben glücklich«, erwiderte sie.
    »Nur einmal?«
    »Gestern Nacht. Auf Wiedersehen, Dr. Younger. Und vielen Dank.«
    Ich antwortete nicht. Glücklicherweise. Hätte ich ihr die Zeit nicht gelassen, dann hätte sie vielleicht nicht die Worte gesagt, nach denen ich mich sehnte.
    »Wollen Sie mich nicht wenigstens zum Abschied küssen?«
    »Küssen soll ich Sie? Sie sind minderjährig, Miss Acton. Nicht im Traum würde mir so was einfallen.«
    »Ich bin wie Aschenbrödel, nur umgekehrt. Um Mitternacht werde ich achtzehn.«
    Mitternacht kam. Und so ergab es sich, dass ich mich nicht ein einziges Mal in diesem noch jungen Monat dazu überwinden konnte, New York zu verlassen.

EPILOG
     
    Im Juli 1910 wurde George Banwell aus Mangel an Beweisen von der Anklage des Mordes an Seamus Malley

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