Morddeutung: Roman (German Edition)
physiologisch ausgerichtete neurologische Behandlung von Geisteskrankheiten wurde fast ein Jahrhundert lang als veraltet, rückständig und unaufgeklärt abgelehnt.
Freud selbst zog aus dem Erfolg der Psychoanalyse in diesem Land nie die Befriedigung, die man vielleicht erwartet hätte. Zur Verwirrung seiner Kollegen bezeichnete er Smith Ely Jelliffe als Kriminellen. Seine Ideen mochten zwar berühmt sein in Amerika, so sagte er, aber sie wurden nicht verstanden. »Mein Argwohn gegen Amerika«, vertraute er einem Freund gegen Ende seines Lebens an, »ist unüberwindlich.«
NACHBEMERKUNG DES AUTORS
Morddeutung ist von Anfang bis Ende ein literarisches Werk, dessen Inhalt jedoch zum großen Teil auf Fakten beruht. Der Mord, der im Zentrum des Geschehens steht, ist genauso frei erfunden wie die schändlichen Bemühungen, Freuds berühmte Vorlesungen an der Clark University zu hintertreiben. Fast alles andere basiert auf Tatsachen.
Sigmund Freud besuchte 1909 wirklich die Vereinigten Staaten. Zusammen mit C. G. Jung und Sándor Ferenczi kam er auf dem Dampfer George Washington am Abend des 29. August an (Ernest Jones’ klassische Biografie gab hierfür ursprünglich den 27. September an, was in späteren Auflagen zu dem immer noch falschen Datum 27. August »korrigiert« wurde). Vor seiner Weiterreise nach Clark residierte Freud eine Woche im Hotel Manhattan in New York und entwickelte dabei eine Art Grauen vor Amerika. Während seines Aufenthalts in den USA wurde Freud tatsächlich gebeten, aus dem Stegreif Psychoanalysen zu erstellen, allerdings nie vom Bürgermeister der Stadt New York – zumindest nicht, soweit uns dies bekannt ist.
Der Beschreibung Manhattans im Jahr 1909 liegen gewissenhafte Recherchen zugrunde. Die Architektur, die Straßen, die feine Gesellschaft – praktisch jedes Detail bis hin zur Farbe der Innenverkleidung von Taxis entspricht den Fakten. Für alle noch verbliebenen Irrtümer bin allein ich verantwortlich.
Allerdings konnte ich mich nicht bei allen New Yorker Einzelheiten an die Realität halten. Beispielsweise war das Hauptleichenschauhaus der Stadt damals im Bellevue Hospital an der Twenty-sixth Street untergebracht, während ich Coroner Hugel – eine erfundene Figur – und sein Leichenschauhaus in ein fiktives Gebäude in der Innenstadt verpflanzt habe. Desgleichen musste ich das Balmoral erschaffen, wo Elizabeth Riverfords Leiche entdeckt wird, doch sachkundige Leser werden sofort erkennen, dass es samt dem Springbrunnen und den darin spielenden Seehunden dem Ansonia nachempfunden ist. Auch der Senkkasten der Manhattan Bridge wird zwar zum größten Teil wahrheitsgetreu beschrieben, aber im September 1909 war er sicherlich bereits mit Beton gefüllt und besaß nicht mehr die zum Fluss hin offenen Druckkammern zur Schuttentfernung, die im Buch als »Fenster« bezeichnet werden. In Wirklichkeit müssen diese Schächte auch länger gewesen sein, aber ich brauchte die »Fenster« – wer das Buch bereits gelesen hat, weiß natürlich, warum.
Außerdem habe ich bestimmte historische Ereignisse zeitlich nach vorn oder nach hinten verlegt. Als kleines Beispiel wäre Abraham Brills Erwähnung von Theodore Roosevelts »Bindestrich-Amerikanern« zu nennen. Geschichtskenner werden darauf verweisen, dass Roosevelt seine bekannte Rede über die »Bindestrich-Amerikaner« erst 1915 gehalten hat. (Dieser abfällige Begriff für Minderheiten in Anspielung auf Bezeichnungen wie Italo-Amerikaner oder Hispano-Amerikaner war allerdings 1909 schon weit verbreitet, und die Presse dürfte schon vor 1915 von Roosevelts Ansichten berichtet haben. So ist zum Beispiel auf Seite 3 der New York Times vom 17. Februar 1912 nachzulesen, dass Roosevelt die Bindestrich-Amerikaner in einem kurz zuvor in Deutschland erschienenen Artikel heftig angegriffen hatte. Brill, der sich ein Leben lang seines deutschen Akzents bewusst war, war in dieser Frage bestimmt hochsensibel.) Auch die tatsächlich existierenden Texte, die Dr. Younger zurate zieht, um zu ergründen, weshalb sich Nora Acton im Bett liegend von oben sieht, sind teilweise erst nach 1909 entstanden. Andererseits wäre es durchaus denkbar, dass Detective Littlemore eine Kurzgeschichte von H. G. Wells über einen ganz ähnlichen Vorfall gelesen hat; diese Erzählung mit dem Titel Under the Knife erschien bereits 1896.
Eine weitere leichte Zeitverschiebung betrifft den Streik bei der Triangle Shirtwaist Company, die Betty einstellt; dieser Streik fand
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