Schokoladenzauber - Roman
Prolog
Mortal Ruin
A ls der eigentlich gefahrenfreie Radiosender, den Chloe Lyon immer bei der Arbeit hörte, plötzlich »Dead as My Love« über den Äther schickte, den ersten Hit von Mortal Ruin, stand sie in der Küche ihrer kleinen Wohnung und pinselte sorgfältig eine dicke Schicht aromatischer dunkler Criollo-Kuvertüre in ihre Gussformen. Sie musste vor Weihnachten einen letzten Schwung hohler Schokoladenengel produzieren.
Irgendwie passte das, denn als hohler Engel hatte sich Raffy Sinclair weiß Gott erwiesen, aber so dauerte es eine Weile, bis Chloe eine Hand frei hatte und das Radio ausschalten konnte. Da lief schon Eric Claptons »Tears in Heaven«. Offenkundig hatte der Gast des Wunschprogramms glücklichere Erinnerungen an das Jahr 1992 als sie. Ganz sicher wäre auch noch Whitney Houstons »I Will Always Love You« gekommen, und das hätte Chloe endgültig den Rest gegeben.
Sie hatte zwar das Radio zum Schweigen gebracht, doch da spielte die Musik schon in ihrem Kopf, und mit ihr kamen die Erinnerungen hoch. Die dunkle Wut, der stechende Schmerz angesichts von Raffys Betrug, all das rollte mit solcher Macht heran, als wäre es erst gestern geschehen. Plötzlich war sie wieder die verliebte Neunzehnjährige, die einen Zauber entdeckt hatte, der ihr weit mächtiger erschien als die Gesänge, Sprüche und Beschwörungsformeln ihres Großvaters.
Chloe hatte den Clapton-Song gemocht, auch wenn Raffy sie damit aufgezogen hatte. Er fand das Lied kitschig. Damals hatte er sich für Nirvana begeistert und – schlimmer noch – für Megadeath und ältere Bands wie Iron Maiden, Judas Priest oder Black Sabbath. Ihr Einfluss war in den Texten, die Raffy für seine Band Mortal Ruin geschrieben hatte, spürbar. Seine Leidenschaft für das Düstere war auch ein Grund, warum sie ihm gegenüber niemals ihren Großvater erwähnt hatte – Raffy wäre womöglich allzu interessiert gewesen, wenn er von ihrer Verbindung zu Gregory Warlock, dem Hexenmeister, erfahren hätte.
Doch sie hatten gar keine Zeit gehabt, sich über Familie und Herkunft zu unterhalten. Sie waren sich gleich zu Beginn des ersten Unisemesters begegnet und hatten sich ineinander verliebt – und auf diese wenigen Wochen inniger Zweisamkeit beschränkte sich ihre Beziehung.
Bei ihr war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, was kaum überraschend war – er war groß und attraktiv, hatte lange schwarze Locken, blasse, durchscheinende Haut und Augen so blaugrün wie das Karibische Meer in einem Urlaubsprospekt –, und er schien gleichermaßen hingerissen zu sein … Außerdem hatten ihr die Tarotkarten eine bevorstehende Änderung angekündigt, die Begegnung mit ihrem Seelenverwandten, und natürlich hatte sie angenommen, dieser Seelenverwandte wäre er.
Ein fataler Irrtum.
Nie hätte sie damit gerechnet, dass es zu Ende gehen würde, nicht einmal nach dem Streit am letzten Abend des Semesters. Die Band hatte einen Plattenvertrag bekommen und wollte ihr Glück versuchen, und Raffy hatte sie gebeten, in den Ferien mit ihm zu kommen, anstatt wie geplant nach Hause zu fahren. Sie hatte ihm nicht erklärt, warum sie unbedingt nach Hause musste, was sie wahrscheinlich getan hätte, wenn sie nicht so furchtbar wütend gewesen wäre. Oder er nicht unentwegt über Mortal Ruin gesprochen hätte.
Wenn sie geahnt hätte, dass sie im nächsten Semester nicht an die Uni zurückkehren würde … Wenn es diesen letzten, bitteren Streit nicht gegeben hätte, bei dem sie ihm ihre Adresse nicht gegeben hatte … Es gab so viele Wenns, aber am Ende war es wahrscheinlich egal, hatte er sich doch so gar nicht als der Mann erwiesen, für den sie ihn gehalten hatte.
Ein hohler Engel: dunkel und appetitlich von außen und im Innern leer. Ein Luzifer, aus dem falsche Versprechungen hallten.
All das ahnte sie damals nicht. In den langen Wochen, in denen sie sich um das Baby, ihren Halbbruder Jake, gekümmert und darauf gewartet hatte, dass ihre Mutter nach ihrer jüngsten Affäre heimkehren würde, hatte sie sich oft nervös gefragt, wie Raffy auf ihren Brief reagieren würde. Sie hatte ihn an ihre frühere Zimmergenossin Rachel geschickt und sie gebeten, ihn Raffy zu überreichen, sobald er wieder zu Verstand gekommen war. Trotz dieses letzten heftigen Streits war sie sich seiner Liebe sicher und felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie einen gemeinsamen Weg finden würden. Er hatte ihr doch so oft gesagt, dass er sie liebte …
Selbst in den dunkelsten
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