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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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ich mich an Ihrer Stelle gefühlt hätte. Aber ich möchte Ihre Frage beantworten. Homosexualität ist sicherlich kein Vorteil, aber sie lässt sich nicht als Krankheit einordnen. Sie stellt in keiner Weise eine Schande, ein Laster oder eine Entartung dar. Bei Frauen vor allem kann ein primärer Narzissmus, eine Selbstliebe dazu führen, dass sich ihr Begehren auf das eigene Geschlecht richtet. Doch ich würde Nora ohnehin nicht als homosexuell bezeichnen. Ich würde eher sagen, dass sie verführt wurde. Eigentlich hätte ich ihre Liebe zu Mrs. Banwell sofort erkennen müssen. Sie war ganz offenkundig die stärkste unbewusste Strömung in ihrem geistigen Leben. Schon am ersten Tag haben Sie mir berichtet, mit welcher Hingabe sie von Mrs. Banwell gesprochen hat, obwohl sie die heftigste Eifersucht hätte empfinden müssen auf eine Frau, die ihren Vater sexuell befriedigt hat – auf eine Weise, wie sie es selbst gern getan hätte. Nur das stärkste Verlangen nach Mrs. Banwell konnte es ihr gestatten, diese Eifersucht zu unterdrücken.«
    Natürlich konnte ich dieser Bemerkung nicht aus vollem Herzen zustimmen. So nickte ich nur.
    »Sie sind nicht meiner Meinung?«
    »Ich glaube nicht, dass Nora in dieser Weise auf Clara eifersüchtig war.«
    Freud zog die Augenbrauen hoch. »Wenn Sie das nicht glauben, müssen Sie auch den Ödipuskomplex ablehnen.«
    Wieder schwieg ich.
    »Ah«, machte Freud und noch ein zweites Mal: »Ah.« Er holte tief Luft und sah mir leise seufzend in die Augen. »Das ist der Grund, warum Sie nicht mitkommen.«
    Ich überlegte, ob ich Freud meine Neufassung des Ödipuskomplexes auseinandersetzen sollte. Ich hätte es gern getan, und noch lieber hätte ich über Hamlet mit ihm diskutiert. Aber ich brachte es nicht über mich. Ich wusste, wie nah ihm Jungs drohende Loslösung gegangen war. Später gab es bestimmt eine bessere Gelegenheit. Am Dienstagmorgen wollte ich ohnehin rechtzeitig zu seiner ersten Vorlesung in Worcester sein.
    »In diesem Fall«, fuhr Freud fort, »möchte ich noch eine Möglichkeit zur Sprache bringen, bevor ich abfahre. Sie sind nicht der Erste, der den Ödipuskomplex ablehnt. Und Sie werden bestimmt nicht der Letzte sein. Aber Sie haben vielleicht einen besonderen Grund dafür, der mit mir zu tun hat. Sie haben mich aus der Ferne bewundert, mein Junge. Bei solchen Beziehungen ist immer eine Art von Liebe zum Vater im Spiel. Jetzt, da Sie mich persönlich kennengelernt und Gelegenheit erhalten haben, diese Besetzung zu vollziehen, schrecken Sie davor zurück. Sie haben Angst, dass ich mich wie Ihr echter Vater aus Ihrem Leben verabschiede. Um diesem befürchteten Rückzug zuvorzukommen, leugnen Sie den Ödipuskomplex.«
    Es goss in Strömen. Freud betrachtete mich mit freundlichen Augen.
    »Jemand hat Ihnen erzählt, dass mein Vater Selbstmord begangen hat.«
    »Ja.«
    »Aber das stimmt nicht.«
    »Ach?«
    »Ich habe ihn umgebracht.«
    »Wie bitte?«
    »Es war die einzige Möglichkeit«, schloss ich, »um meinen Ödipuskomplex zu überwinden.«
    Freud sah mich an. Einen Moment lang fürchtete ich, er könnte meine Bemerkung tatsächlich ernst nehmen. Dann lachte er laut und schüttelte mir die Hand. Er dankte mir, dass ich ihn eine Woche lang in New York unterstützt und vor allem dass ich seine Vorlesungen an der Clark University gerettet hatte. Ich begleitete ihn aufs Schiff. Sein Gesicht schien viel zerfurchter als noch vor einer Woche, sein Rücken leicht gebeugt, seine Augen ein Jahrzehnt älter. Als ich von Bord ging, rief er meinen Namen. Er stand an der Reling, ich hatte bereits zwei Schritte die Gangway hinunter gemacht. »Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein, mein Junge«, bemerkte er unter seinem Schirm, auf den der Regen fiel. »Was Ihr Land angeht, bin ich sehr misstrauisch. Seien Sie vorsichtig. Es treibt die schlimmsten Seiten an den Menschen hervor: Rohheit, Ehrgeiz, Grausamkeit. Es gibt zu viel Geld. Ich sehe auch die Prüderie, für die Ihr Land berühmt ist, aber sie ist brüchig. Sie wird von einem Wirbelwind der Lustbefriedigung weggefegt werden, der sich schon jetzt zusammenbraut. Ich fürchte, Amerika ist ein Fehler. Ein imposanter Fehler, sicherlich, aber dennoch ein Fehler.«

     
    Das war das letzte Mal, dass ich Freud in Amerika sah. Am gleichen Abend fuhr ich mit Nora hinauf zur Spitze des Gillender Building, zu dessen Füßen sich Nassau Street, Broad Street und Wall Street kreuzten. Hier wurden jeden Tag Vermögen gewonnen und verloren. Zu

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