Mordrausch
bereits weg. Er spielte mit dem Gedanken, umzukehren und die Frau zu suchen … aber was dann? Sollten sie sie umbringen?
»Hat sie euch gesehen?«, fragte der Mann hinten, der nur einen kurzen Blick auf das Gesicht der Frau erhascht hatte.
Der Beifahrer antwortete: »Sie hat mich direkt angeschaut. Scheiße.«
»Kann man nichts machen«, sagte der Anführer. »Es war nur ganz kurz.«
Sie fuhren weiter.
Weather hatte den Mann mit der Flasche gesehen, jedoch nicht richtig wahrgenommen, weil ihr zu viele Dinge im Kopf herumgingen. Sie lenkte den Wagen auf einen Ärzteparkplatz in der Nähe der Tür und eilte ins Krankenhaus.
Der Großgewachsene kehrte zurück zur Abstellkammer und zog Regenmantel und Hose aus, unter denen er die Arztkleidung verborgen hatte. Wenn ihnen auf dem Flur jemand begegnet wäre, den drei kräftigen Männern mit dem Arzt, hätte er sich daran erinnert. Der Großgewachsene stopfte die Uniformen der anderen mit dem Mantel und der Hose in eine Sporttasche und holte tief Luft.
Er lauschte, hörte nichts, schaltete das Licht in der Kammer aus, spähte in den leeren Flur und ging auf einem Weg, auf dem es keine Kameras gab, zu einem Aufzug. Dort drückte er auf den Knopf und wartete ungeduldig.
Als die Tür sich öffnete, nickte ihm eine klein gewachsene, attraktive Blondine aus dem Lift zu. Er nickte zurück und stellte sich mit Höflichkeitsabstand zu ihr in den Aufzug.
Die Frau bemerkte: »Fällt mir immer noch schwer, im Dunkeln in die Arbeit zu kommen.«
»Ich kann den Sommer auch kaum erwarten«, pflichtete der Großgewachsene ihr bei.
Im ersten Stock sagte sie: »Irgendwann kommt der Sommer bestimmt«, und stieg aus.
Auf dem Flur dachte Weather: Es hat keinen Sinn, die Zwillinge anzuschauen. Sie schliefen sicher noch in der eigens eingerichteten Intensivstation am anderen Ende des Flurs vom OP. Im Umkleideraum schlüpfte sie aus der Straßen- und in die Operationskleidung. Weather nickte einer Frau zur Begrüßung zu, die feststellte: »Hast wohl nicht schlafen können.«
»Ein paar Stunden schon«, erwiderte Weather. »Sind wir die Ersten?«
Die Frau, eine Radiologin namens Regan, lachte. »Nein. John will jetzt noch was am Tisch verändern. Rick ist auch da; er fummelt mit seinen Instrumenten rum. Und Gabriel war unten in der Intensiv; er ist gerade raufgekommen und klagt über die Kälte.«
»Das sind die Nerven«, sagte Weather. »Bis später.«
Auch ihr war in der OP-Kleidung nicht gerade warm, aber sie fühlte sich wohl darin: Sie arbeitete seit fast fünfzehn Jahren so und atmete gern den Krankenhausgeruch nach Alkohol, Reinigungsmitteln und bisweilen verbranntem Blut.
Obwohl es keinen Sinn hatte, nach den Kindern zu sehen, würde sie es tun. Die beiden Schwestern vor der Intensivstation nickten ihr zu und fragten: »Wollen Sie rein?«
»Ja, ganz kurz.«
»Sie sind ruhig«, sagte eine der Schwestern. »Dr. Maret ist gerade gegangen.«
Weather schlich im Halbdunkel ans Bett der Babys. Auf den ersten Blick wirkten sie wie normale Kleinkinder, die zufällig Kopf an Kopf schliefen. Ihre Hände ruhten auf den Brustkörben, die Augen waren geschlossen, und sie atmeten gleichmäßig. Ungewöhnlich waren nur die Erhebungen an ihren Schädeln. Weather hatte Expander unter der Kopfhaut platziert, um mehr Hautfläche zur Verfügung zu haben, mit der sich die Löcher in den Schädeln bedecken ließen, wenn die Zwillinge getrennt wären.
Zwei unschuldig schlummernde Babys, für die die Welt sich bald ändern würde. Weather beobachtete sie eine Weile. Die kleine Ellen bewegte seufzend einen Fuß, dann war sie wieder ruhig.
Weather ging auf Zehenspitzen hinaus.
Der alte Mann aus der Krankenhausapotheke ächzte, und seine Kollegin kippte bei dem Versuch, sich aufzurichten, gegen einen Stuhl. Dann klopfte jemand ans Ausgabefenster, und sie wollten beide schreien. Heraus kam ein gedämpfter, aber hörbarer Laut. Der alte Mann kaute an dem Isolierbandstreifen über seinem Mund, bis er sich an einer Seite löste, und spuckte ihn aus.
»Dorothy, kannst du mich hören?«
Ein dumpfes »Ja«.
»Ich glaube, mich hat’s übel erwischt. Bitte sag der Polizei, falls ich es nicht schaffen sollte, dass ich einen von denen gekratzt habe. Es müsste Blut unter meinen Fingernägeln sein.«
Er erhielt eine unverständliche Antwort. Nach einer Weile gelang es ihm, eine Hand aus dem Klebeband zu befreien. Er versuchte aufzustehen, doch ihm fehlte die Kraft. Er war nicht in der Lage, sich zu
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