Mordsfreunde
Donnerstag, 15. Juni 2006
Es war Viertel vor acht in der Frühe, als Hauptkommissar Oliver von Bodenstein vom Summen seines Handys um die Aussicht auf einen freien Tag gebracht wurde. Als Leiter des Dezernats für Gewaltkriminalität bei der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim war er seit drei Jahren für die hässliche Seite der Menschheit zwischen Main und Taunus zuständig, zuvor hatte er zwanzig Jahre lang beim K11 in Frankfurt gearbeitet. Bodenstein richtete sich auf und tastete schlaftrunken nach seinem Handy. Cosima würde den ganzen Tag am Schneidetisch verbringen, um ihren neuen Dokumentarfilm in die Endfassung für die Premiere in drei Wochen zu bringen. Lorenz und Rosalie gingen längst ihre eigenen Wege und waren nicht mehr besonders erpicht darauf, Wanderungen oder Ausflüge mit ihrem Vater zu unternehmen. Also hatte er für heute freiwillig den Bereitschaftsdienst übernommen. Er griff nach dem Handy auf dem Nachttisch. Eine unterdrückte Nummer, auch das noch.
»Oliver, hier ist Inka Hansen. Entschuldige die frühe Störung.«
Dr. Inka Hansen war Tierärztin und eine Jugendfreundin von Bodenstein. Im vergangenen Jahr hatte er in einem Mordfall ermittelt, bei dem die Ehefrau von Inkas Kollegen Dr. Kerstner ermordet worden war – und so hatten sich ihre Wege wieder gekreuzt.
»Ich bin im Opel-Zoo in Kronberg«, erklärte Inka. »Die Tierpfleger haben eben etwas gefunden, das aussieht wie eine Hand. Eine echte.«
»Ich komme sofort«, sagte Bodenstein und setzte sich auf.
»Musst du weg?«, murmelte Cosima. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht halb im Kopfkissen vergraben. Ein Anruf zu ungewöhnlicher Zeit an einem Feiertag brachte sie längst nicht mehr aus der Ruhe. Dreiundzwanzig Jahre war es her, dass sie sich quasi zu Füßen eines Selbstmörders kennengelernt hatten – Bodenstein ein junger Kriminalkommissar bei seinem ersten Toten, sie, die Fernsehreporterin, die über den spektakulären Fall des Börsenmaklers, der sich in seinem Büro erhängt hatte, berichten wollte.
»Ja, leider«, Bodenstein küsste ihre schlafwarme Wange und machte sich gähnend auf den Weg ins Badezimmer. »Im Opel-Zoo liegt etwas, das wie ein Leichenteil aussieht.«
»Ach Gott«, sie rollte sich wenig beeindruckt unter ihrer Decke zusammen und war schon wieder eingeschlafen, als Bodenstein zehn Minuten später frisch rasiert und gekleidet die Treppe hinunterging.
Als er eine Viertelstunde später über den Bahnübergang in Kelkheim fuhr, rief er seine Kollegin Pia Kirchhoff an. Vor der Eisdiele San Marco sah die Straße aus wie ein Schlachtfeld. Schräg gegenüber befand sich eine ›Public Viewing Area‹ mit einer Großleinwand für die Fußball-Weltmeisterschaft, vor der gestern Hunderte begeisterter Zuschauer den knappen 1:0-Sieg der deutschen Nationalmannschaft über Polen erlebt und danach ausgiebig gefeiert hatten. Es dauerte beinahe eine Minute, bis sich Pia Kirchhoff meldete.
»Guten Morgen, Chef«, sie klang ein wenig atemlos, »ich habe heute frei! Erinnern Sie sich?«
»Sie hatten frei«, antwortete Bodenstein. »Im Opel-Zoohaben sie eine menschliche Hand gefunden. Glauben sie zumindest. Ich sage der Spurensicherung Bescheid. Kümmern Sie sich um einen Arzt?«
»Ich habe gerade einen Fachmann in der Nähe«, sagte Pia Kirchhoff.
»Doch nicht etwa Dr. Henning Kirchhoff?« Bodenstein grinste.
»Nur damit Sie keine voreiligen Schlüsse ziehen«, Pias Stimme klang belustigt, »er hat mich heute Nacht lediglich bei der Geburtshilfe unterstützt.«
Kriminalkommissarin Pia Kirchhoff gehörte seit einem knappen Jahr zum Team des K11 der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim. Nach der Trennung von ihrem Ehemann Dr. Henning Kirchhoff, dem stellvertretenden Leiter der Frankfurter Rechtsmedizin, hatte sie sich einen Hof mit einem großen Grundstück in Unterliederbach gekauft, wo sie mit ihren Tieren lebte, und war in ihren alten Beruf bei der Kriminalpolizei zurückgekehrt.
»Geburtshilfe?« Bodenstein ging vom Gas, um nicht von der Kamera im Starenkasten stadtauswärts geblitzt zu werden.
»Mein zweites Fohlen ist letzte Nacht gekommen. Ein kleiner Hengst. Wir haben ihn ›Neuville‹ getauft.«
»Herzlichen Glückwunsch. Wieso ›Neuville‹?«
»Sie haben wohl mit Fußball gar nichts am Hut, Chef«, Pia lachte, »Oliver Neuville hat gestern in der Nachspielzeit das entscheidende Tor geschossen.«
»Aha«, Bodenstein fuhr durch Fischbach, folgte der abknickenden Vorfahrt und bog an der
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