Mordsschock (German Edition)
ruhen lassen und nicht weiter herumstochern. Im Interesse der Angehörigen.“ Herder hielt aus dem Augenwinkel Ausschau nach seiner Frau und seinen beiden Kindern, die gerade um das Büfett jagten und sich wahre Berge auf ihre Teller stapelten. Irgendwann fiel dem Jungen ein, dass es lustiger wäre, auf das Matrosenkleid der blond bezopften Schwester Tomaten zu feuern.
Prompt schaltete die ihre Sirene an: „Mama, Ernst-August ärgert mich!“
Die Mutter schüttelte genervt ihre wohlgefönten Dauerwellen und keifte: „Ernst-August Herder, benimm dich gefälligst!“
„Tu ich doch!“, konterte der kleine Streithansel.
Im nächsten Moment zerrte ihn sein Vater unsanft am Ärmel vom Büfett weg. Damit war unser Gespräch beendet.
Etwas abseits von den anderen Leuten unter einem Ahorn mit weit ausladenden Ästen stand eine hübsche, junge Frau. Ihr dunkelblaues Kostüm identifizierte sie als zugehörig zum ‚Club‘. Sie war ungefähr in meinem Alter. Große Rehaugen und ein glänzender schwarzer Zopf, aus dem sich einige Locken vorwitzig herausringelten, verliehen ihr einen mädchenhaften Touch. Versonnen umklammerte sie ein Glas mit Orangensaft.
Ihre Außenseiterposition machte mich neugierig. Ich schob mich unauffällig näher an sie ran und tat so, als wollte ich unter dem Ahorn in Ruhe eine Zigarette rauchen.
Offensichtlich lagen ihr die Benimmregeln im Blut. Als ich meine Zigaretten zückte, langte sie in ihre Jackentasche und zog ein Feuerzeug hervor. Sie lächelte professionell. „Guten Tag, Sie müssen die neue Redakteurin vom Rosenhagener Tageblatt sein. Ich bin Christine Riecken, Kulturausschuss.“ Sie erkundigte sich, wie es mir in Rosenhagen gefiel. Wir tauschten eine Weile Belanglosigkeiten aus. Sie erzählte mir von ihrem Informatikstudium und ihrer Tätigkeit als Freizeitpolitikerin im Kulturausschuss. Engagiert schilderte sie mir ihre Arbeit. Trotz ihrer zierlichen Figur wirkte sie energisch, wie jemand, der sich gerne durchsetzte.
Irgendwann stockte unser Gespräch, wie es manchmal passiert, wenn man sich gegenseitig fremd ist.
Nur um irgendetwas zu sagen, bemerkte ich: „Der tragische Tod Ihres Parteikollegen hat Sie sicherlich alle erschüttert! So jung, sich mit dem Auto einen Abhang hinunterzustürzen. Brr ...“ Ich schüttelte mich.
Sofort verdüsterte sich ihr Gesicht. Die Rehaugen schweiften in die Ferne, als hätte sie meine Anwesenheit einen Moment lang vergessen. Der kämpferische, entschlossene Ausdruck, den sie eben trugen, verschwand und wich Verwundbarkeit.
„Hoffentlich habe ich nichts Falsches gesagt?“, bedauerte ich.
Sie zuckte zusammen. „Nein, nein.“
„Werden in der Kiesgrube heimliche Rennen gefahren?“ Mein Gefühl sagte mir, dass diese Frau mehr wusste als die anderen, mit denen ich bisher gesprochen hatte.
Tatsächlich landete ich anscheinend endlich einen Volltreffer. Christine Riecken klammerte sich wie eine Hilfesuchende erschrocken an einen Ast des Ahorns. Sie schaute plötzlich zerbrechlich aus. „Wie kommen Sie darauf?“
„Warum düste Ihr Parteikollege sonst nachts in der Kieskuhle umher?“ Als sie nichts erwiderte, beschloss ich, weiter die naive Ahnungslose zu spielen. „Und außerdem soll auch ein anderer dort vor einiger Zeit ums Leben gekommen sein.“
„Ja, Sebastian.“
„Sie glauben nicht daran, dass die beiden sich umgebracht haben?“
Sie schwieg. Mit gesenktem Kopf lehnte sie am Baumstamm.
Ich vergaß alle Vorsicht. „Christine, was ist geschehen? Sie wissen es doch.“
Als sie nicht antwortete, insistierte ich weiter: „Haben Sie Kommissar Herder Ihre Vermutungen mitgeteilt?“
Sie blickte mich düster an. Es war, als wolle sie meine Augen mit ihren festnageln. Komischerweise dachte ich einen Moment lang wieder an die ernsten Augen des toten Peter Heimann, die mich so fasziniert hatten.
Christine Riecken machte eine ruckartige Bewegung und griff nach meinem Ellenbogen. Kaum berührt, ließ sie ihn wieder sinken. Wie ein Reflex, den sie in derselben Sekunde bereute. „Schreiben Sie etwas über die Unglücksfälle in der Kiesgrube?“ Die Stimme war nah an meinem Ohr, die Lippen bewegten sich kaum. Ihre Frage quälte sich offenbar gewaltsam einen Weg aus ihrer Brust ins Freie.
Taktisch wartete ich ab, was sie weiter sagen würde.
„Lassen Sie die Finger davon!“, flüsterte sie. „Sie sind neu und können es nicht wissen. Es ist gefährlich!“
„Was?“
Statt einer Antwort murmelte sie: „Vergessen Sie,
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