Morgaine 3 - Die Feuer von Azeroth
sein.
Sie zuckte die Achseln. »Du hast mir nie im einzelnen erzählt«, sagte sie, »aus welchem Grund du deine Ehre verlorst – warum man dich zum
ilin
machte, weiß ich; aber weshalb hat man dir auch die Ehre genommen? Natürlich würde ich dir nie befehlen, mir zu antworten«, setzte sie hinzu.
Er senkte den Kopf und spannte die Schnur zwischen seinen Fäusten, und er spürte das Haar, das sich frei in seinem Gesicht und am Hals bewegte. Nun wußte er, was sie ihm zu schenken versuchte, und in einem plötzlichen Gefühl der Freiheit blickte er zu ihr auf. »Wegen Feigheit«, sagte er. »Weil ich nicht auf Wunsch meines Vaters sterben wollte.«
»Feigheit.« Sie tat diesen Gedanken mit einem tonlosen Lachen ab. »Du? Flechte dir das Haar, Nhi Vanye. Dazu bist du schon zu lange auf dieser Straße geschritten.«
Sie wählte ihre Worte bedacht und blickte ihm dabei ins Gesicht: in dieser ernsten Sache hatte sogar eine
liyo
im Grunde nichts zu sagen. Aber er schaute von ihr in die Dunkelheit ringsum und wußte, daß das so war. Er faßte einen Entschluß, steckte sich das Band zwischen die Zähne und raffte sich das Haar zurück, um es zu flechten, aber der verletzte Arm wollte ihm nicht gehorchen. Er vermochte nicht bis nach hinten zu greifen und nahm mit gereiztem Seufzen das Band wieder aus dem Mund, »
Liyo
...«
»Ich könnte es versuchen, wenn dich der Arm zu sehr schmerzt«, sagte sie.
Er blickte sie an. Sein Herz stockte und schlug dann weiter. Niemand berührte das Haar eines
liyo,
der nicht auf das engste mit ihm verbunden war – keine Frau, die nicht in intimstem Kontakt mit ihm stand. »Wir sind nicht verwandt«, sagte er.
»Nein. Wir sind alles andere als verwandt.«
Sie wußte also, was sie tat. Im ersten Augenblick versuchte er eine Antwort zu finden, dann tat er, als habe es nichts zu bedeuten, wandte ihr den Rücken und ließ es zu, daß sie seine ersten groben Flechtschlingen wieder glättete. Ihre Finger waren fest und arbeiteten geschickt.
»Ich glaube nicht, daß ich einen richtigen Nhi-Zopf hinbekomme«, sagte sie. »Ich habe bisher nur meinen eigenen Knoten geformt, und das vor langer Zeit – Chya.«
»Also einen Chya-Knoten; dessen schäme ich mich nicht.« Sie arbeitete vorsichtig an seinem Haar, und er neigte stumm den Kopf, im Banne einer Empfindung, die sich allen Worten entzog. Weggefährten seit langer Zeit waren sie und er; zumindest in Distanz und Zeit, wie sie bei den Menschen gemessen wurde;
ilin
und
liyo
– er sagte sich, daß in dem, was sich zwischen ihnen entwickelt hatte, etwas nicht richtig sein mochte: er fürchtete, daß es so war – doch sein Gewissen in dieser Richtung hatte sich zurückgezogen.
Und daß Morgaine kri Chya einem Wesen Zuneigung entgegenbrachte, das ihr genommen werden konnte – er wußte, was sie das kostete.
Sie beendete ihre Arbeit, nahm ihm die Schnur ab und band sie fest. Der Knoten des Kriegers fühlte sich vertraut und ungewohnt zugleich an, und seine Gedanken wanderten zurück nach Morija in Kursh, wo er diesen Titel zuletzt geführt hatte.
Es war ein seltsames Gefühl. Er drehte sich um und begegnete ihrem Blick, ohne den Kopf zu senken, wie er es früher wohl getan hätte. Auch das war ungewohnt.
»Es gibt viele Dinge«, sagte er, »die wir zwischen uns nie besprochen haben. Nichts ist einfach.«
»Nein«, gab sie zurück. »Nichts.« Wieder wandte sie das Gesicht der Dunkelheit zu, und plötzlich ging ihm auf, daß dort unten Stille herrschte – kein Waffengeklirr war mehr zu hören, kein fernes Brüllen, kein Hufgetrappel.
Die anderen merkten es auch. Merir stand auf und schaute über die Ebene, auf der nur sehr vage Umrisse auszumachen waren. Lellin und Sharrn stützten sich auf die Felsen und versuchten hinabzuspähen, und Sezar rappelte sich mit Lellins Hilfe auf, um über die Kante zu schauen.
Aus weiter Ferne tönten plötzlich dünne Schreie, kein Kriegergeschrei, sondern spitze Laute des Entsetzens. Dies setzte sich eine lange Zeit fort, immer wieder da und dort am Horizont.
Dann herrschte wirklich Stille, und der erste Hauch der Morgendämmerung zeigte sich im bewölkten Osten.
Das Licht kam langsam, wie immer über Shathan. Es erhob sich aus dem Osten, berührte die grauen Wolken und lieh den verstreuten Felsbrocken vage Umrisse, den zerklüfteten Überresten der großen Klippen Nehmins und dem fernen Tor des Kleineren Horns. Der Weiße Hügel begann sich im morgendlichen Dunst abzuzeichnen, ebenso der
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