Morgen früh, wenn Gott will
hinüber und zur Tate Gallery. »Ironie des Schicksals«, musste ich unwillkürlich denken. Dann lief ich schneller als je zuvor in meinem Leben. Als ich die beiden erreichte, bekam ich keine Luft mehr.
»Mickey«, ich stand jetzt hinter ihm, keuchend, weil ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er drehte sich nicht um. »Was zum Teufel machst du hier?«
Louis sah mich über die Schulter seines Vaters hinweg an und lächelte in seliger Unwissenheit. Sein einziger Zahn schimmerte perlweiß. Mickey aber schwieg.
»Wir wollten doch diesen Morgen wegfahren, oder nicht? Hast du es dir anders überlegt?« Ich atmete schwer und rang nach Luft. »Wir müssen nicht, mir ist es egal. Wir können auch zu Hause bleiben.« Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. »Es war ja ohnehin deine Idee.«
Endlich sah er mich an. Er drehte sich um und sah mich an. Seine Lippen verzogen sich zu dem gewohnten Wolfslächeln. Irgendetwas in seinem Gesicht sorgte dafür, dass mir erneut das Herz schwer wurde, als zöge ein Bleigewicht es nach unten wie ein Pendel, das nie mehr wieder den Weg nach oben finden würde. Kalt kroch die Erkenntnis mir durch Mark und Bein. Eis in meinen Adern.
»Warum siehst du mich so an?«, flüsterte ich. Doch in meinem Inneren hatte das Puzzle schon begonnen, sich aufzulösen. »Was ist denn los?« Aber ich wusste, was los war. Ich starrte ihn an, den Mann, der mir so fremd war. Ich war so dumm gewesen, so voll äußerster Sorge, dass mir die Wahrheit entgangen war.
Mickey bewegte sich von mir weg und nahm meinen Sohn mit sich. Er schien so ruhig, dass es schon unheimlich war.
»Gib mir meinen Sohn zurück, Mickey«, sagte ich ruhig. Ich streckte die Arme nach meinem Baby aus. Doch Mickey ging einen Schritt weg von mir. Wie ein wildes Tier brachte er sich instinktiv in Sicherheit.
»Also«, sagte ich und bewegte mich ebenfalls im Versuch, seinen Blick zu erhaschen. »Wie lange weißt du es schon?«
Jetzt durfte ich die Geistesgegenwart nicht verlieren. Ich folgte ihm und hielt den Blick auf Louis gerichtet. Mickey erreichte seine Bank, wo er sich setzte, nur so ein bisschen an den Rand. Er dachte wohl darüber nach, wie er fliehen könnte. Louis begann zu quengeln und sich zu wehren, doch sein Vater griff in die Tasche und holte einen Keks hervor. Mit knubbligen Fingern griff Louis danach. Auf diese Weise würde er wohl eine Weile lang Ruhe geben.
»Früher oder später musst du mir sowieso die Wahrheit sagen.«
In der morgendlichen Stille wartete ich seine Antwort ab. In der Ferne bellte ein Hund. Noch weiter weg zerhackte ein Hubschrauber die Luft.
»Ja«, seufzte er. »Das muss ich wohl.« Er ließ seine Hand über Louis’ seidiges Haar gleiten. »Weißt du, ich dachte, es würde schon gehen. Wir würden es irgendwie hinbekommen, du und ich, sobald Agnes weg wäre. Aber dann …« Hier traf mich sein vorwurfsvoller Blick. »Dann sah ich, wie du gestern Abend diesen Typen, Silver, angesehen hast.«
»Was?« Zentimeterweise rückte ich näher. »Jetzt begreife ich gar nichts mehr. Hier geht es doch nicht um mich. Es geht um dich und Agnes, meinst du nicht?« So unauffällig wie möglich setzte ich mich ans andere Ende der Bank. Nur keine abrupten Bewegungen.
»Ja, mich und Agnes. Du hast recht.« Wieder eine Pause.
Seine Stimme war jetzt sehr ruhig. »Weißt du, ich dachte einfach nicht, dass du so verzweifelt sein würdest.«
»Wann war ich verzweifelt?«
»Als Louis verschwand.«
Ungläubig lachte ich auf. »Du hast dir tatsächlich eingebildet, du könntest meinen Sohn kidnappen, und es wäre mir egal? Bist du völlig durchgeknallt?«
»Ach, komm schon, Jessica«, sagte er hart und sah auf Louis’ Haarwirbel hinunter. Der Kleine war gerade am Einnicken. »Du bist ja wohl kaum die geborene Mutter!«
Fast hätte ich mich auf diese Diskussion eingelassen, denn im Grunde hatte er ja recht. Ich hatte mich nicht sofort in meine neue Rolle finden können. Ich hatte tief in mir nach dem Mutterinstinkt suchen müssen, der unter Zweifeln und Unsicherheit verschüttet gewesen war. Mickey wiederum war vom ersten Moment an von Louis hingerissen gewesen. »Das mag für die erste Zeit gestimmt haben«, sagte ich ruhig. »Aber jetzt ist es anders. Und du weißt das.«
»Ja«, sagte er traurig. »Ich weiß es. Leider ist es jetzt zu spät.«
Ich blickte den Hügel hinab. »Also«, sagte ich behutsam. Ein Mädchen in eng anliegenden Leggins joggte vorüber. »Wann ist dir die glorreiche Idee
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