Morgen ist ein neuer Tag
erweckte den Eindruck, als breche er gleich in Wahnsinn aus. »Wer hat denn wen ermordet? Er mich! Dieser Korngold hat mich in den Tod gestoßen, vor dem Gesetz, vor den Richtern, er hat die Hand zum Schwur erhoben und gesagt: ›Fritz Bergschulte ist in meinen Armen gestorben.‹ Und man hat es ihm geglaubt, er hat die arme Witwe geheiratet, der edle, gute Mensch, und alle priesen ihn, achteten ihn, einen Mann, der das getan hat. Deshalb frage ich noch einmal: Wer hat wen ermordet? Ich ihn? Wie kann ein Toter morden? Wenn es ein Gesetz gibt, das Lebende zu Toten erklärt, dann kann es keine gesetzliche Strafe mehr geben für einen solchen Toten, wenn er sich rächt an dem, der ihm das Leben genommen hat.«
Der Heimkehrer war völlig durcheinander. Kein Wunder, daß aus ihm der Irrsinn sprach.
Franz Stahl hatte die Hände gefaltet und sah seinen Schwiegersohn lange an. Tiefes Mitleid stand in seinen Augen. Da sitzt nun ein Mann, dem man sein ganzes Leben raubte, dachte er. Erst die Jugend, denn er war ein junger, frischer Bursche voller Mut und Kraft, Plänen und Tatendrang gewesen, als er in den grauen Rock gesteckt und in den Krieg geschickt worden war. Er hatte sich mit eigener Hände Arbeit ein nettes Haus erbaut, hatte seine Lina, die er wie nichts auf dieser Welt liebte, verehrt. Die Zukunft stand ihm offen, das Leben fürchtete er nicht. Er war glücklich, frei und ein Mann, der lachen konnte. Da war der Wahnsinn über diese Welt gekommen, da hatten die Völker angefangen, sich zu zerfleischen, da sanken die Männer dahin wie Blüten im ersten Frost, und die Tränen der Frauen und Mütter hätten Meere füllen können. Und jetzt saß er da, der junge, hoffnungsvolle Fritz Bergschulte – kahlgeschoren, ausgemergelt, betrogen um Jugend, Frau, Kind, Besitz, Zukunft und Leben, ein Toter nach dem Gesetz, ein Verlorener als Lebender, zerlumpt, ausgestoßen aus einer sibirischen Hölle, ohne Heimat in der Heimat, ohne Hoffnung, ohne Glück …
Ein Opfer des Wahns der Welt …
»Du kannst bei uns wohnen«, sagte Franz Stahl spontan. »Wo willst du denn auch hin? Es gibt keine Wohnung, nicht einmal ein möbliertes Zimmer für einen, der kein Geld und keine Arbeit hat, und es ist auch nicht so leicht, ohne weiteres Arbeit zu finden. Du wirst also bei uns bleiben, bis sich was findet für dich … das heißt, wenn du willst, Fritz …«
Fritz Bergschulte nickte stumm. Dann stand er vom Sofa auf und ging in der Küche hin und her. Die harten Sohlen seiner klobigen Schuhe dröhnten auf den Dielen.
»Ich habe von der Spätheimkehrerfürsorge 300 DM versprochen bekommen«, sagte er. »Das reicht fürs erste. Einen neuen Anzug und neue Wäsche bekomme ich vom Sozialamt. Das hat man mir in Helmstedt am Sammelpunkt für Heimkehrer gesagt. Und eine Stelle bekomme ich auch. Man braucht doch wieder Maurer …«
»Hoffentlich.« Der alte Schuster zog seinen Teller wieder zu sich heran und biß in das Honigbrötchen. Es knackte laut und appetitanregend. »Und nach Vlotho zu Lina fährst du nicht?«
»Doch. Morgen.« Fritz Bergschulte blieb am Fenster stehen und trommelte gegen die Fensterscheiben. Drunten auf der Straße vor dem Haus spielten vier Mädchen einen Reigen und sangen mit hellen Stimmen das Reigenlied. »Aber ich werde nicht zu ihr gehen. Ich werde einen Jungen hinauf schicken und sie bitten, mir den Peter zu zeigen. Mein Kind. Und wenn sie es nicht will, werde ich mir mein Kind holen – wenn es sein muß, mit Gewalt …«
Er preßte die Lippen so zusammen, daß sie ein schmaler Strich wurden, und steckte die Hände in die tiefen Taschen.
Als Franz Stahl dann nach dem Morgenkaffee hinüber zu seinem Geschäft ging, in dem zwei Gesellen bereits fleißig die Schuhe besohlten, hatte Emma Stahl schon das kleine Bad gerichtet, und Fritz Bergschulte veranstaltete mit einer großen, harten Bürste Generalreinigung für seinen Körper. Das heiße Wasser, die ungewohnte Anstrengung einer vernünftigen Rasur, das erste richtige Essen nach langer Zeit und die Erschütterung der letzten Stunden machten ihn müde und schlapp. Emma Stahl hatte dies geahnt, und als Fritz aus dem Bad kam, sauber, rasiert, in einen Bademantel Franz Stahls gehüllt, lachte ihn seine Schwiegermutter an und schob ihn in das Schlafzimmer, wo ein frisch bezogenes Bett seiner harrte.
»So, und nun schlaf dich erst einmal richtig aus, mein Junge«, sagte sie bewußt laut, um ihre Rührung zu überdecken. »Wenn du morgen aufwachst, sieht die Welt
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