Morgen ist ein neuer Tag
wieder viel freundlicher aus. Und ich koche dir dann auch dein Lieblingsessen – grüne Bohnen mit Speck und Kartoffeln durcheinander.«
»Danke, Mutter«, sagte Fritz bewegt. Dann schloß sich hinter ihm die Tür.
Langsam trat er vor den großen Spiegel, der eine Tür des breiten Kleiderschrankes bildete. Er ließ den Bademantel von sich fallen und betrachtete seinen nackten Körper im Spiegel.
Hohl, gekrümmt, knochig, mit überdeutlich sich abzeichnenden Rippen sah er sich zum erstenmal in einem solchen Spiegel seit zwölf Jahren. Er sah seinen schrecklichen Kopf, das geschorene Haar, die hohlen, tiefen Augen, die fahle, lederne Haut, die rissigen Lippen, den faltigen Hals, die eingefallenen Schultern und den flachen Brustkorb, den eingesunkenen Leib, die knochigen Hüften, die langen, erschreckend dürren Beine.
Da wandte er sich ab, warf sich auf das Bett und begann, wie ein Kind zu weinen, steckte den Kopf in die Kissen, als könne er den eigenen Anblick nicht ertragen, und schluchzte haltlos und dumpf …
So weinte er sich in den Schlaf, erschöpft, zerschlagen, schlief bleiern den ganzen Tag, die ganze Nacht bis zum nächsten Morgen, ohne Träume, ohne sich zu bewegen. Der Krampf seines Körpers löste sich, die grenzenlose Erschöpfung wich langsam zurückkehrenden Kräften.
Auf Zehenspitzen schlichen Emma und Franz Stahl in der Wohnung umher. Emma schlief in der Küche auf dem Sofa, Franz stellte die Klingel ab, um Fritz nicht durch Besucher wecken zu lassen, und als der Abend kam, saßen sie ernst und bedrückt um den Küchentisch und sahen sich fragend an.
»Was wird aus Lina?« fragte Franz endlich. »Das ist ja furchtbar, Emma …«
»Und der Heinrich hat uns alle belogen. Er wußte, daß Fritz lebt. Er ist ein Schuft«, sagte Emma leise.
»Das arme Kind.« Franz Stahl legte den Kopf in beide Hände. »Die arme Lina. Wenn ich nur wüßte, wie man den beiden helfen könnte …«
»Sie kann sich scheiden lassen«, meinte Emma widerstrebend.
Franz Stahl nickte. »Das kann sie«, sagte er gedehnt. »Aber ob sie das will …?«
Und sie starrten in den Abend hinein, ratlos, erschüttert, gezeichnet von Befürchtungen und Sorgen, zwei kleine, alte Menschen, über denen sich das unaufhaltsame Schicksal zusammenbraute.
2
Heinrich Korngold war zu einer Zeit nach Deutschland zurückgekommen, in der man kräftige Leute zum Wiederaufbau suchte und es viele offene Stellen gab. So war er denn auch gleich 14 Tage nach seiner Rückkehr in Vlotho bei einer kleineren Maschinenfabrik als leitender Ingenieur angestellt worden. Er hatte ein gutes Gehalt, einen Dienstwagen, sparte für ein eigenes Auto, besaß eine nett eingerichtete Neubauwohnung mit vier Zimmern und konnte es sich leisten, im Tennisklub und im Schwimmverein der Stadt Mitglied zu sein. Man betrachtete ihn in Vlotho als eine geachtete Persönlichkeit, dessen Gesellschaft man suchte. Daß er die Witwe seines in Rußland in seinen Armen gestorbenen Kameraden heiratete und dessen Sohn wie sein eigenes Kind behandelte, fand Anerkennung und reichte dazu aus, daß er in den Salons der vornehmen Damen als ein Musterbeispiel von Edelmut und Ehrenmann empfunden wurde. Und auch Frau Lina schien an seiner Seite nach all den kummervollen und sorgenreichen Jahren aufzublühen, sie überwand langsam den Schmerz über den Verlust ihres ersten Mannes und führte einen Haushalt, der allgemein als mustergültig angesehen wurde. Ihre kleinen Kaffee-Nachmittage oder Teeabende waren beliebt, und wenn sie mit ihrer frischen Natürlichkeit plauderte, flogen ihr die Herzen der anderen zu. Heinrich Korngold selbst war im Betrieb und namentlich bei den Arbeitern sehr gut angeschrieben – er hatte ein Herz für den kleinen Mann, verteidigte die Rechte der Arbeiter auch der Direktion gegenüber und scheute sich nicht, mit manchem einen Schnaps zu trinken. Außerdem war er ein Könner in seinem Fach und imponierte jedem durch sein Wissen.
Als Frau Lina an diesem sonnigen Maimorgen 1955 den Kaffeetisch abräumte und Heinrich Korngold schon hinüber zur Fabrik gegangen war, der Junge seine Mappe packte, um mit dem Rad zum Gymnasium zu fahren, ahnte keiner von ihnen, daß dies der letzte friedliche Morgen für lange Zeit sein sollte.
Als Peter vor dem Haus auf sein Rad stieg, sah er an der Straßenecke einen fremden Mann stehen, der ihn mit merkwürdig stechenden Augen musterte. Er trug einen etwas zu weiten Fischgrätanzug und einen großkrempigen Hut über dem
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