Morgen ist ein neuer Tag
Dieses ›Fritz‹ hatte sie immer mit dieser merkwürdig singenden Stimme gesagt, wenn sie zärtlich zusammen auf dem Sofa gesessen waren und die Abendsendungen des Rundfunks gehört hatten. Es war für ihn ein Ton, den er immer im Ohr behalten hatte, weil er ihre ganze Liebe zu ihm umfaßte.
»Fritz«, sagte sie leise. »Wie sehr hat dich die Gefangenschaft verändert …«
»Nicht wahr?« Er lachte bitter. »Sieht anders aus, der alte Trottel. Kahlgeschoren wie ein Zuchthäusler im Film, bleich, eingefallen, ein lebendes, klapperndes Gerippe. Kann man verkaufen beim Altwarenhändler – Knochen, Lumpen, Papier … Zwölf Jahre Rußland sind keine Lappalie – zwölf Jahre Hölle gehen nicht spurlos vorüber an einem.«
»Warum hast du nie geschrieben?«
»Das fragst du mich? Geh doch hin zu dem netten Politruk, zum Genossen Kommissar und frag ihn! Der gute, edle Mann hat die Post vor dem Lager verbrennen lassen. Aber warum sollte ich auch schreiben? Das hätte ja nur gestört. Inzwischen lief es ja so schön mit Heinrich Korngold – nicht wahr?«
Lina antwortete nicht, sondern zog die Tür weiter auf.
»Komm doch 'rein, Fritz«, flehte sie. »Die Nachbarn brauchen das nicht alles zu hören.«
»Die Nachbarn? In die Welt werde ich es schreien: Heinrich Korngold ist schlimmer als ein Mörder! Schlimmer als ein viehischer, gewissenloser, satanischer Mörder!« Er wischte sich über die Augen und wurde plötzlich still. Sein Körper sank zusammen, und sein zerfurchtes Gesicht wurde kindlich und flehend. »Lina –«, sagte er stockend. »Lina … komm mit.«
»Wohin?«
»Zurück. Erst zu deinen Eltern … dann werde ich arbeiten, Tag und Nacht, der Junge soll weiter auf dem Gymnasium bleiben, du sollst weiter schöne Kleider haben, ich werde uns wieder ein Haus bauen. Es soll alles so sein, wie es früher war … Lina, komm …«
Er hob die Arme. Zitternd wich Lina zurück und verkrampfte die Finger hinter ihrem Rücken. Unwirklich weiß war ihr Gesicht.
»Es geht nicht mehr, Fritz«, sagte sie leise.
»Du willst bei einem Schuft bleiben?«
»Dieser Schuft ist mein Mann …« Sie wankte und lehnte sich gegen den Türpfosten. »Warum bist du nicht früher gekommen … drei … vier Monate früher? Jetzt ist es zu spät.«
»Es ist nie zu spät …« Bergschultes Hände formten sich zur Geste der Bitte. »Zieh einen Strich wie ich, Lina. Es gibt keine Vergangenheit mehr.«
»Aber eine Zukunft.« Sie schwankte stärker und hielt sich an der Tür fest. »Ich erwarte in sechs Monaten ein Kind …«
Wie vom Donner gerührt, erstarrte Fritz Bergschulte und verstummte. Dann ließ er seine Hände sinken. Scheinbar eine Ewigkeit lang blickte er vor sich hin ins Leere.
Dann wandte er sich stumm um, ging langsam, Stufe für Stufe wie ein Schlafwandler, die Treppe hinab, klinkte die Haustür auf und trat hinaus auf die sonnenüberflutete Straße.
Oben, an der Treppe, stand Lina und blickte ihm nach. Durch ihren Körper rann eine plötzliche Kälte, als berühre eine Totenhand ihr Blut, zitternd streckte sie beide Arme nach dem stummen Mann aus, der wie eine aufgezogene Puppe vor ihr die Treppe hinabging. »Fritz …« flüsterte sie und spürte ihre Lippen kalt werden wie Eis … »Fritz … bleib doch … Fritz …«
Dann drehte sich das Treppenhaus vor ihren Augen, der Treppenschacht schien auf sie zuzukommen, das Geländer ebenfalls, ein helles Brausen war in ihren Ohren und eine fremde Stimme, die laut aufschrie … dann war Luft um sie, die in tiefe Dunkelheit überging.
Mit langen, schleppenden Schritten ging Fritz Bergschulte die Straße hinunter zur nächsten Haltestelle der Trambahn. Er sah nicht nach rechts und nicht nach links, er achtete auf keine Menschen, auf kein Auto, er sah nur den dunklen Asphalt der Straße vor sich und trottete diesem Band nach. Dunkel, dachte er nur, dunkel waren die Wege in Rußland, dunkel das ganze Schicksal, dunkel ist das Leben, und der Tod ist schwarz.
So sah er nicht, wie Heinrich Korngold mit überhöhter Geschwindigkeit an ihm vorbeiraste, hörte nicht das Kreischen der Wagenbremsen, als das Auto um die Ecke schleuderte, und sah nicht das verstörte Gesicht seines ehemaligen Freundes.
Lina verunglückt, schrie es in Heinrich Korngold, während er wie ein Wilder durch die Straßen fegte. Die Nachbarn haben angerufen … sie ist die Treppe hinuntergestürzt … mein Gott, und sie trägt ein Kind unter dem Herzen … mein Kind …
Seine Hände umklammerten das
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