Morgenrötes Krieger
anderen Sinn bekommt, mehr wird als nur reines Vergnügen. Wir haben so gut wie keine freie Wahl. Da r um auch die intensive Beschäftigung mit den Sozia l strukturen – es wäre eine zu große Kraftanstrengung, wenn wir anders leben wollten. Warum, glaubst du, gibt es sonst so etwas Kompliziertes wie unsere Webe – wir haben unsere guten Gründe. Man will noch einen Rest an Kontrolle behalten, wer geboren werden soll und was später aus ihm wird, nachdem der reine Instinkt sein Werk vollbracht hat. Deshalb auch ist sie nichts fürs ga n ze Leben. Nur aus reiner Neugier würden wir so etwas nicht erfinden.
Dort, wo du gelebt hast, war es nicht möglich, dies a l les zu beobachten. Die Innenverwandten der Webe – Bazh’ingil und Pethmirian – waren schon in der Fruchtba r keitsperiode. Die anderen warteten gerade auf eine neue Phase; ein oder zwei Jahre braucht Tanzernan , um erneut fruchtbar zu werden. Sie und Dardenglir lieben und hassen sich, wie alle anderen Leute auch, da besteht kein Unte r schied – keiner! Die Begierde und das Verlangen übe r kommt jeden; die beiden Außenverwandten sind ei n ander relativ fremd, und was sie tun oder lassen we r den, liegt nicht im Rahmen ihrer Kontrollmöglichkeit. Hast du dich nicht darüber gewundert, daß unsere Ält e sten allein leben, wenn sie es können? Sie handeln so aus freien Stücken, nicht aus Notwendigkeit, und sie sind dankbar dafür!“
„Aber, Liszendir, was ist mit den Liebhabern vor der Verwebung? Warum verwebt man sich nicht mit ihnen? Und was passiert nach der Verwebung? Was dann? Ob man nun froh ist, allein zu sein oder nicht: Wandern sie nun in die Wälder und kämpfen gegen ihre sinnlichen Begierden an wie asketische Einsiedler?“
Sie lachte ein kurzes, unlustiges Lachen – ohne die Spur eines Humors. „Wenn es man so wäre. Aber es ist nicht so. Jeder Schritt vorwärts – trotz Verzögerungen und Irrwegen – bedeutet das schrittweise Näherrücken an das Ziel, an die Bestimmung. Für uns bedeutet dies: Ist die Fruchtbarkeitsperiode beendet, so setzt unser Klima k terium ein – wie bei den Menschenfrauen. Bei uns jedoch sind alle betroffen, auch die Männer. Ist es vorbei, so haben wir an Sexualität kein Interesse mehr, und es geht auch die Fähigkeit verloren, sie auszuüben.“
Sie war den Tränen nahe, ohne Kränkung, ohne Ve r ärgerung, nur aus dem Bewußtsein der Endlichkeit und Begrenztheit heraus. „Wir nennen es die große Trauri g keit. Warum? Nun, weil wir uns so gut erinnern können – in allen Einzelheiten. Das eidetische Gedächtnis kann auch ein Fluch sein. Wir dagegen haben kein Unterb e wußtsein. Deshalb erinnern wir uns an alles, nicht nur an Einzelempfindungen, Bruchstücke oder spezielle Bede u tungsformen – nein, die vollständigen Szenen, genauso, wie sie sich zugetragen haben. Das ist auch der Grund, warum ich dir gegenüber auf Distanz gegangen bin. Ich habe zu starke Erinnerungen an andere. Du siehst nur den Sex, das Vergnügen, die oberflächliche Bindungslosi g keit. Wir aber müssen für alles bezahlen. Stell dir nur einmal vor, wie das vor sich geht: Du hast einen Gelie b ten, mit dem du über Jahre hinweg geschlafen hast, man fühlt sich zueinander hingezogen. Man verwebt sich und trennt sich wieder. Innenverwandte nehmen dich, und du weigerst dich nicht – und zwar aus gutem Grund. Und wenn du deinen Geliebten wiedersiehst, nach Jahren, bist du frei; aber beide können nichts anderes tun, als sich daran zu erinnern, wie es früher war. Es ist qualvoll.
Aber für die Innenverwandten ist es weitaus schli m mer. Nerh und thes werden dazu ermutigt herumzustre u nen, mal mit dem, mal mit jenem zu schlafen. Danach müßte es eigentlich so sein, daß sie sich mit einem völlig Fremden verweben; aber sie können es nicht, sie bleiben zusammen. Wir verbieten nicht den Sex zu Hause, es gibt keine Tabus, aber komme, was da mag – sie bleiben z u sammen. Und wenn sie gleichaltrig sind, streiten und zanken sie sich ohne Unterlaß. Du fragst dich, warum wir es nicht so wie sonst auch machen – zwei und zwei? Weil unsere Gene instabil sind. Wir können nicht riski e ren, eine geradlinige Familienfolge zu entwickeln. Das könnte zu rassischen Unterarten und absonderlichen M u tationsschichten innerhalb der Bevölkerung führen. Jede Spezies hat ein ganz bestimmtes Maß an biologischen Abweichungen. Dieses Maß ist bei uns, die wir künstlich gezüchtet wurden, besonders hoch.“
„Ich wußte nicht
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