Morton Rhu - Leben und Werk
Tyler.
»Bonzenzicke.«
»Alles hat seinen Grund.«
Und dann hörte ich die Stimme von Dr. Cunningham in meinem Kopf. »Hast du gestern Nacht jemanden gesehen? Als ihr sie abgesetzt habt, meine ich? Ist dir vielleicht irgendein Auto aufgefallen?«
Ich hatte verneint, weil mir tatsächlich kein Auto aufgefallen war – kein anderes Auto. Aber da gab es ja noch den Wagen, in dem ich gesessen hatte. Tylers Wagen.
Mit stilistischen Kunstgriffen wie diesem steigert Morton Rhue kontinuierlich die Spannung. Kurz vor dem großen Showdown haben die Leser mindestens fünf Verdächtige im Kopf und rätseln fieberhaft, bis es auf den letzten sechzig Seiten zur schrittweisen Aufklärung kommt. Das Finale enthält viel Action, eine Portion Sadismus, außerdem blutrünstige Elemente wie eine Heugabel, mit der Madison die Mörderin – eine psychopathische Lehrerin, die als Jugendliche selbst gemobbt wurde und sich nun durch Mord an beliebten Schülern rächt – aus Notwehr ersticht.
Während die Aufklärung der Identität von Madisons Cyberstalker P Bleeker kaum Überraschungen bietet, ist es interessant, wie Morton Rhue Madisons Schwarm Tyler in Szene setzt: Madisons von Grund auf positives Gefühl ihm gegenüber bestätigt sich, allerdings erklärt sich am Ende, warum Madison immer wieder Misstrauen und sogar Angst gegenüber dem attraktiven Neuen empfunden hat: Tyler, der Bruder eines früheren Opfers der Lehrerin, war nach Soundview gezogen, um auf eigene Faust Ermittlungen durchzuführen. Damit greift der Autor in diesem sonst eher auf Action, Grusel und Spannung basierenden Ende noch einmal die Frage nach Vertrauen und Misstrauen, nach Menschenkenntnis auf. Madison wird hier im Kontext der Wertevermittlung als positives Beispiel dargestellt: Sie bezieht sowohl Herz als auch Verstand in den Prozess der Meinungsbildung ein. Nachdem sich eine Erklärung für Tylers bisweilen seltsames Benehmen gefunden hat, kann Madison getrost auf ihr Herz hören und es kommt zum angedeuteten Happy End.
Tyler spielt mit dem Gedanken, in Soundview zu leben. Ob Madison das gut fände, möchte er wissen.
Ich schob lächelnd meine Hand in seine. »Weißt du was, Tyler? Das würde ich sogar sehr gut finden.«
Blood on my Hands
Samstag, 23:45. Ich kauere vor Katherine, die in dem dunklen Wäldchen neben dem Baseballfeld auf der Erde liegt. Mein Herz rast, mein Atem geht flach und stoßweise und meine Gefühle überschlagen sich. Katherine liegt auf der Seite, die Arme und Beine eng an den Oberkörper gezogen, als habe sie sich vor dem Angriff schützen wollen. Ihr Körper ist warm, aber ihr Herz schlägt nicht mehr. Das weiß ich, weil ich gerade Zeige- und Mittelfinger auf die Hauptschlagader an ihrem klebrig feuchten Hals gelegt habe, wie es Rettungssanitäter tun, um den Puls zu fühlen. Aber da war kein Puls und das bedeutet, dass sie tot ist. Tot! Katherine, mit der ich zur Schule gegangen bin, die meine Freundin war … und auch meine Feindin.
Dieser heftige Einstieg ins Geschehen, der blutrünstige Titel und die Umschlaggestaltung von »Blood on my Hands« legen die Vermutung nahe, dass Morton Rhues zweiter Thriller noch actionreicher und brutaler angelegt ist. Wer sich aber auf eine Steigerung des Nervenkitzels gefreut hat, wird enttäuscht, denn nach der Anfangsszene fließt kein Tropfen Blut mehr. Diese Enttäuschung erlebten offensichtlich einige Jugendliche, die in Web-Leseforen ihren Unmut über den unvermutet soften Nachfolger von »Wish u were dead« äußerten. Dabei erkennen sie in ihren Rezensionen durchaus die herausragenden Qualitäten dieses Buches an, welche – je nach Lesergeschmack – sogar ganz über die etwas weniger actiongeladene Story hinwegtrösten können: Atmosphärische Dichte, psychologisch ausgefeilte Porträts der Hauptfiguren und eine berührende Liebesgeschichte machen »Blood on my Hands« zum bisher tiefgründigsten von Morton Rhues Thrillern.
Fast der gesamte Roman ist aus der Sicht der Protagonistin Callie erzählt. Jedes der einundfünfzig Kapitel beginnt mit einer Angabe von Wochentag und Uhrzeit, wodurch dem Leser eine Art »Live-Modus« nahegelegt wird. Callie berichtet fast atemlos im szenischen Präsens von ihrem viertägigen Untertauchen. Nachdem Katherine, die »Königin« des Jahrgangs, bei einer Spontanparty am Waldrand ermordet wurde, gilt Callie als Hauptverdächtige, da sie mit einem blutigen Messer in der Hand neben der Leiche gesehen und von zahlreichen Handys fotografiert
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