[email protected] Betreff: Auch hier gibt es etwas Neues
Huhu Sarah!
Na, was macht New York?
Auch ich bin wieder auf Reisen, wenn auch nicht ganz so weit wie Du: Daniel und ich sind wieder in Sterenn Park. Wer hätte das am Montagmorgen gedacht? Noch vor zwei Tagen wusste ich nicht einmal, ob Daniel noch zu meinem Leben gehört oder nicht. Unser Wiedersehen war leidenschaftlich, so wie alle Momente, die wir bisher gemeinsam erlebt haben. Es ist Wahnsinn, von einem Mann derart in den Bann gezogen zu werden. Eine Nacht hat ausgereicht und ich habe mein inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen (ich hab Dir viele Male von Daniels unbeständigem Charakter erzählt), aber ich glaube, er empfindet dasselbe wie ich.
Daniel hat mir seine Schwester Agathe vorgestellt. Sie lebt in Sterenn Park und verlässt das Anwesen nie. Anfangs kam mir das merkwürdig vor. Das ist es aber gar nicht: Agathe ist eine Künstlerin, die am Computer Filme schneidet. Sie ist ständig vernetzt und hat sich diese Leidenschaft sogar zum Beruf gemacht. Sie hat tatsächlich ein gesundheitliches Problem, denn sie spricht nicht. Ich weiß, dass dieser Zustand die Folge eines Schocks ist, aber wie Du Dir vorstellen kannst, ist es unmöglich, Daniel auch nur die geringste Erklärung zu entlocken ...
Wie du vermutlich weißt, habe ich Tom gebeten, eine Nachricht an Camille Wietermann weiterzuleiten: Agathe möchte ihren Vater wiedersehen. Ich fand, dass es die beste Entscheidung ist, noch einmal die Vermittlerrolle zu übernehmen. Daniel habe ich nichts davon gesagt, denn ich weiß, er wäre damit nicht einverstanden.
Hat Dir Tom gesagt, welchen Flug Camille genommen hat? Ich vermute, dass er hierher kommen wird, aber ich weiß weder wann noch wie ... Ich muss gestehen, dass ich vor diesem Moment Angst habe: Habe ich richtig gehandelt, mich in diese Dinge einzumischen? Ich kenne Daniels Zornesausbrüche. Wie wird er reagieren, wenn er seinen Vater in Sterenn Park sieht? Ich bin zweigeteilt zwischen dem Glücksgefühl, mit Daniel zusammen zu sein, und dem Bedürfnis, mehr über das zu erfahren, was sich hier abspielt.
Denn irgendetwas spielt sich in dieser Familie ab, da bin ich mir sicher! Über Agathe und Ray habe ich etwas sehr Merkwürdiges in Erfahrung gebracht: Angeblich hatte Daniel einen Bruder, der vor seiner Geburt gestorben ist. Aber ich habe gute Gründe zu glauben, dass er noch lebt! Ich stelle gerade fest, dass das vollkommen verrückt ist!
Ich halte Dich auf dem Laufenden. Gib auf Dich und auf Tom acht.
Ich grüße euch beide ganz herzlich.
Julia
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Wie immer tut es mir gut, Sarah von meinen Zweifeln zu erzählen. Die Konfrontation zwischen Camille und Daniel ist nun unumgänglich. In meinem tiefsten Inneren kann ich nicht umhin zu denken, dass das eine gute Sache ist. Dieser Mann hat wahrscheinlich alles dafür getan, um weiterhin ein Auge auf seine Kinder zu werfen. Dem wenigen nach, was ich über ihre Mutter weiß, kann das kein leichtes Unterfangen gewesen sein. Was für eine Mutter muss man sein, um den eigenen Kindern mit Enterbung zu drohen, wenn sie ihren Vater wiedersehen? Und was für „grauenvolle Dinge“ kann Camille begangen haben, dass er in dieser Weise von dem Anwesen verbannt wurde? Es muss wirklich etwas Schreckliches geschehen sein, dass man jeglichen Dialog mit ihm verweigert. Aber jeder Mann sollte das Recht haben, sich mit seinen Kindern auszusprechen. Ich hoffe wirklich, dass dieser alte Mann, den ich im Restaurant getroffen habe, Gelegenheit dazu haben wird.
Ich weiß nicht, wie lange, aber ich bin in der Sonne eingenickt. Eine Hand auf meiner Schulter weckt mich. Es ist Ray. Er sieht mich mit besorgter Miene an.
„Mademoiselle Julia? Monsieur Camille wartet auf Sie.“
„Schon? Wie ist er so schnell aus New York zurückgekommen?“
Ray lächelt.
„Sind Sie noch nicht mit den Gepflogenheiten der Familie Wietermann vertraut? Monsieur Camille ist im Privatjet angereist.“
Alles geht schneller, wenn man sich nicht um Flugpläne kümmern muss ...
Er fährt fort:
„Sein Privatflugzeug ist vor ein paar Minuten gelandet. Wenn Sie einverstanden sind, hätte er gerne, dass Sie ihn abholen. Wollen Sie mich begleiten?“
„Natürlich, Ray. Ich folge Ihnen.“
Mit einem mulmigen Gefühl steige ich ins Auto.
Nun kommt die Stunde, in der ich die Folgen meines Handelns tragen muss.
Mit zaghafter Stimme frage ich:
„Kommt Daniel nicht