Mr. Fire und ich, Band 5 (German Edition)
Stimme, die sie nicht einmal zu verbergen versucht.
„Als Jérémie drei Jahre alt war, hat er uns verlassen. Das hat man mir zumindest gesagt. Als fünfjähriges Mädchen habe ich damals nicht verstanden, konnte aber auch kaum Fragen stellen. Wir haben zu Hause nicht mehr über Jérémie gesprochen. Zwei Jahre später kam dann Daniel.“
Agathe entfernt sich ein Stück. Ich lasse sie vorausgehen, ohne mir auch nur eine Silbe ihrer Geschichte entgehen zu lassen.
„Ungefähr zehn Jahre lang haben wir zu viert als glückliche Familie zusammengelebt. Das war zumindest das Image, das die Familie Wietermann den Medien gegenüber pflegte. Vermutlich war es auch das Bild, das Daniel zu diesem Zeitpunkt von seiner Familie hatte. In den Augen seiner Mutter war er der Erbe. Er wurde mit der Idee großgezogen, dass er eines Tages das Unternehmen Tercari führen würde. Von klein auf ist es Daniel gewohnt, dass alle nach seiner Pfeife tanzen. Er erteilt die Befehle, er hält die Zügel in der Hand, er trifft die Entscheidungen.
Aber am Tag meines 17. Geburtstages ist mein Vater zusammengebrochen. Er konnte es nicht mehr ertragen, dass seinem jüngeren Sohn alle Ehre zuteilwurde, während man den älteren abgeschoben hatte. Er wollte, dass Jérémie nach Hause zurückkehrt. Das hat meine Mutter natürlich abgelehnt. Zu schlecht für ihr Image und das des Unternehmens. Jérémies Zustand erforderte ständige Pflege und man hätte nicht verstanden, dass sie an der Spitze des Familienunternehmens bleibt, anstatt sich um ihn zu kümmern.“
Diese Frau ist ein Monster!
„Mein Vater ist weggegangen. Daniel und mich hat er zurückgelassen. Von diesem Tag an habe ich beschlossen zu schweigen, bis er wiederkommt. Was dank deiner Hilfe heute geschehen ist.“
Agathe strahlt bei diesem letzten Satz.
„Das stimmt, Agathe. Aber ich stelle fest, dass du nicht alle Einzelheiten kennst.“
Daniel ist zwischen den Bäumen aufgetaucht, ohne dass wir ihn haben kommen hören. Er würdigt mich keines Blickes.
„Bruderherz, gesell dich doch zu uns! Erklär mir, was ich nicht weiß.“
„Nicht vor einer Fremden“, erwidert er, den Blick auf seine Schwester gerichtet.
Das trifft mich wie ein Schlag in den Magen. Eine Fremde? Ist das alles, was ich aus der Sicht von Daniel Wietermann bin? Die Tränen steigen mir in die Augen, aber eher würde ich tot umfallen, als ihnen freien Lauf zu lassen. Meine Würde ist alles, was mir noch bleibt.
„Du bist genauso unerbittlich wie unsere Mutter, Daniel“, erklärt Agathe vorwurfsvoll.
„Irgendjemand muss hier schließlich durchgreifen. Ich stehe wenigstens zu meiner Verantwortung. Ich schotte mich nicht zwischen den Mauern eines luxuriösen Anwesens von der Welt ab.“
„Und du bietest der Welt die Stirn, Daniel? Du, für den immer alles so einfach gewesen ist? Abgesehen von Julia, der Person, die es zuletzt gewagt hat, sich einer Vorgabe des mächtigen Daniel Wietermann zu widersetzen? Das ist doch der Grund, warum du so außer dir bist, oder etwa nicht?“
Daniel schweigt, aber ballt die Fäuste. Als er das Wort ergreift, schlägt er wieder diesen falschen, beschwichtigenden Ton an, den er seiner Schwester gegenüber bereits benutzt hat:
„Agathe, es ist schon so lange her, dass ich den Klang deiner Stimme zuletzt gehört habe. Ich lasse nicht zu, dass unsere erste echte Konversation ein Streit ist.“
„Ich bitte dich, sprich normal mit mir. Ich bin nicht zurückgebliebener als du. Und wenn du schon nicht auf meine Frage antworten willst, dann denke wenigstens darüber nach: Hat es Julia verdient, dass du sie mit Verachtung strafst, wo sie uns doch dieses Wiedersehen ermöglicht hat?“
Ich beobachte Daniel wortlos. Er wird es mir schwer verzeihen können, dass ich mich in die Angelegenheiten der Familie Wietermann eingemischt habe. Ich erwarte keinerlei Wohlwollen von seiner Seite, und doch hätte ich gerne, dass er daran denkt, dass ich ihm nie in irgendeiner Weise schaden wollte. Ganz im Gegenteil. Seine Augen sehen durch mich hindurch, als hätte ich aus seiner Sicht jede Substanz verloren.
Die Zeit scheint sich ins Unendliche auszudehnen. Bei meinem letzten Aufenthalt in Sterenn Park, als mich seine Mutter hinausgeworfen hat, war ich der Überzeugung gewesen, dass ich einen Ort verlasse, an dem es keinen Platz für mich gibt. Heute bin ich mir noch immer bewusst, dass ich nicht zu dieser Welt gehöre, aber manche Dinge haben sich geändert: Ich bin von nun an Teil ihrer
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