Mr. Fire und ich, Band 5 (German Edition)
durcheinander er sein muss: Zugleich einen Vater und eine Schwester wiederzufinden, das bedeutet auch, wieder Teil einer Familie zu sein, wieder zu sich selbst zu finden.
Doch als ich zu ihm aufsehe, lässt mir sein Gesichtsausdruck das Blut in den Adern gefrieren. Daniels Miene ist unerbittlich. Er beugt sich zu mir hin und zischt mir ins Ohr:
„Ich hasse Leute, die sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen. Wage es nie mehr, meiner Familie nahezukommen.“
Daniel lässt mich los und fällt seiner Schwester um den Hals. Nach einer langen Umarmung löst sich Agathe von ihrem Bruder, küsst ihn auf die Stirn und kommt auf mich zu.
„Ich möchte mich bei dir bedanken, Julia“, verkündet sie, während sie meine beiden Hände drückt. „Ich möchte mich wirklich bei dir bedanken. Du musst mir erklären, wie du dieses Wunder bewerkstelligt hast.“
Agathes Stimme klingt melodisch und sanft. Gar nicht, wie man es bei jemandem vermuten würde, der seit Jahren kein Wort gesprochen hat. Ein Detail, das zu denken gibt: War Agathe tatsächlich krank? Oder hat sie ihre Stimmlosigkeit simuliert? Und wenn ja, warum?
Sie nimmt mich an den Schultern und zieht mich mit sich in Richtung Park. In meinem Kopf herrscht Chaos. Noch immer geschockt von Daniels Äußerung, lasse ich es mit mir geschehen. Ray, Daniel und Camille beobachten uns, ohne uns zurückzuhalten. Ein paar Minuten lang laufen wir zwischen den Bäumen hindurch.
„Du hast eine Heldentat begangen!“, lacht Agathe. „Dass Camille hierherkommen konnte, gegen Daniels Willen ... Mein Bruder war schon immer dagegen, dass unser Vater nach Sterenn Park kommt, seit er weggegangen ist. Er hat genau die Vorgaben unserer lieben Mutter befolgt. Zwei richtige Diktatoren!“
Eine verärgerte Grimasse läuft über ihr Gesicht.
Ich bin nicht weit davon entfernt, genauso zu denken wie sie. Ich hatte ihre Mutter schon hautnah erlebt und Daniels letzte Reaktion ging genau in dieselbe Richtung. Dennoch überkommt mich eine tiefe Traurigkeit.
„Was ist los, Julia?“
„Diesmal habe ich Daniel verloren.“
„Warum?“
Ist es der warmherzige Blick dieser Frau, die ich kaum kenne, der mich dazu bringt, mein Herz auszuschütten? Ich erzähle ihr alles: die Anfänge meiner Beziehung zu Daniel, die beinahe animalische Anziehungskraft, die dieser wankelmütige, oftmals tyrannische Mann auf mich ausübt, und vor allem meine unkontrollierbare Angst, ihn zu verlieren ...
Agathe hört mir schweigend zu. An manchen Stellen runzelt sie die Stirn, besonders als ich von meiner Begegnung mit ihrer Mutter erzähle, oder dem Moment, als Daniel mich im Restaurant sitzen gelassen hat, weil ich wissen wollte, wer die Frau auf dem Foto ist. Sie schüttelt den Kopf, als ich Daniel zitiere: „Diese Frau ist uns wichtig, vor allem meiner Schwester.“
Mit meinen Worten und meinem Latein am Ende weine ich stumme Tränen. Agathe kommt auf mich zu und nimmt mich an den Schultern.
„Julia, du weißt so wenig über den Mann, den du liebst!“
Ich schüttle den Kopf, bereit mit aller Macht diese letzte Behauptung zu leugnen: Ich gebe zu, dass ich nichts oder fast nichts über Daniel weiß, aber kann man sagen, dass ich ihn liebe? Es ist zu früh für mich, um auf diese Frage zu antworten. Beziehungsweise bin ich für die Antwort noch nicht gerüstet.
„Pst ...“, flüstert Agathe und legt mir dabei einen Finger auf die Lippen. „Lass mich dir ein bisschen was über die Familie Wietermann erzählen.“
Ich bin ganz Ohr. Eigentlich warte ich nur darauf.
„Daniel ist das dritte Geschwisterkind bei uns, das Nesthäkchen sozusagen. Ich bin die Älteste. Zwischen uns gibt es noch einen Bruder, Jérémie. Hat dir Daniel von ihm erzählt?“
„Er hat mir gesagt, er sei verstorben.“
„Wie praktisch“, murmelt Agathe. „Nein, Jérémie ist nicht tot. Er ist nur ... nicht im Einklang mit den Vorstellungen unserer Mutter.“
Ich blicke Agathe entsetzt an. Was soll das heißen?
„Als Jérémie geboren wurde, hat man eine seltene Erbkrankheit bei ihm diagnostiziert. Die Hauptrisiken sind ein schneller Zerfall des Nervensystems mit schweren neurologischen Folgeschäden. Kurzum, ein zurückgebliebenes oder behindertes Kind, oder beides. Unerträglich in den Augen der Tercari-Erbin. Also hat man diesen ,Krüppel‘ aus ihrem Blickfeld entfernt.“
Ich höre Agathe zu und traue meinen Ohren nicht. Jedes Mal, wenn sie ihre Mutter erwähnt, liegt eine abgrundtiefe Verachtung in ihrer
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