Muensters Fall - Roman
ein verdammtes, feuchtes Loch!
Es gab eine schmale, wacklige Gangway, befestigt zwischen Kai und Reling, aber Jung betrat sie lieber nicht. Stattdessen zog er an einem Tauende, das von dem Kanalgeländer weiter über einen Baumast zu einer Glocke am Schornstein lief. Diese gab zwei dumpfe Schläge von sich, aber es folgte keine Reaktion. Der Eindruck, dass die Schute leer war, war überwältigend. Er zog noch einmal an der Leine.
»Er ist nicht da!«
Jung drehte sich um. Die heisere Stimme kam von einer dick eingemummelten Frau, die gerade dabei war, ihr Fahrrad an
einem zehn Meter entfernten Baum weiter unten am Kai anzuschließen.
»Kein Rauch und keine Lampen«, erklärte sie. »Dann ist er nicht zu Hause. Er nimmt es immer sehr genau mit den Lampen.«
»Aha«, sagte Jung. »Ich nehme an, dass Sie Nachbarn sind.«
Die Frau ergriff ihre beiden Tüten und hievte sie über die Reling eines anderen Schiffes, das etwas sauberer war als das von Bonger – mit rotkarierten Gardinen im Fenster und grünen Pflanzen in einem kleinen Gewächshaus auf dem Kajütendeck. Wahrscheinlich Tomaten.
»Ja, natürlich«, sagte sie und begab sich überraschend behände aufs Deck. »Das heißt, wenn Sie Felix Bonger suchen.«
»Genau«, bestätigte Jung. »Sie wissen nicht zufällig, wann er wohl wieder zu Hause sein wird?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Eigentlich sollte er jetzt da sein. Aber ich habe geklingelt, bevor ich einkaufen gefahren bin. Ich kaufe immer sonntags ein bisschen auf dem Kleinmarkt ein ... aber wie gesagt, er war nicht da.«
»Und das ist ganz sicher?«, fragte Jung.
»Sehen Sie doch selbst nach!«, schnaubte die Frau. »Hier schließt keiner ab.«
Jung ging an Bord, kletterte ein paar Stufen hinunter und schaute durch die Tür. In dem lang gezogenen Raum gab es ein kombiniertes Schlafsofa, einen Tisch mit zwei Stühlen, einen Elektroherd, einen Kühlschrank und einen Fernsehapparat. Die Kleider hingen auf Bügeln an der Wand, und Bücher und Zeitungen lagen überall verstreut herum. Von der Decke schaukelten eine nackte Glühbirne an einem Kabel und ein ausgestopfter Papagei auf einer Stange. Auf einem niedrigen Schrank lag ein abgenutztes Akkordeon.
Aber den stärksten Eindruck machte der Geruch nach Schmutz und alter Kleidung. Und nach altem Mann.
Nein, dachte Jung. Das macht doch vom Land aus einen viel besseren Eindruck.
Als er wieder an Deck kam, war die Frau auf ihrem Boot verschwunden. Jung zögerte eine Weile, sicher gab es noch die eine oder andere Frage, die er ihr stellen konnte, aber als er vorsichtig über die Gangway wieder an Land ging, knurrte sein Magen so heftig, dass damit nicht mehr zu spaßen war. Außerdem fror er inzwischen. Wenn er einen kleinen Umweg auf seiner Strecke zum Polizeipräsidium machen würde, könnte er bei Kurmann’s reinschauen und dort ein Jägerfilet mit Bratkartoffeln und Soße bekommen. Nichts einfacher als das.
Und ein Bier dazu.
Es war jetzt fast zwölf Uhr, und was ein richtiger Mann ist, der setzt seine Beschlüsse auch sogleich in die Tat um.
5
Marie-Louise Leverkuhn verließ mit Münsters Segen die Polizeiwache kurz nach ein Uhr am Sonntag. In ihrer Gesellschaft befand sich Emmeline von Post, die Freundin, bei der sie den Samstagabend verbracht hatte und die ein paar Stunden zuvor von den schrecklichen Ereignissen der Nacht unterrichtet worden war.
Und die sich sofort und ohne zu zögern bereit erklärt hatte, der frisch gebackenen Witwe in ihrem Reihenhaus draußen in Bossingen eine Bleibe zu geben.
Bis auf weiteres. Bis die Lage sich etwas beruhigt hatte. Kurz gesagt, so lange es eben notwendig war.
Sie kannten einander seit fünfzig Jahren. Waren fünfundzwanzig Jahre lang Arbeitskolleginnen gewesen.
Münster brachte die beiden Damen auf den Parkplatz, und bevor sie sich in Frau von Posts roten Renault zwängten, betonte er noch einmal, wie wichtig es sei, dass Frau Leverkuhn von sich hören ließe, wenn ihr auch nur das Geringste einfiele, was für die Arbeit der Polizei vielleicht von Bedeutung sein könnte. Die Arbeit, die darin bestand, den Mörder ihres Ehemannes zu finden.
»Wir treten mit Ihnen aber in ein paar Tagen auf jeden Fall in Kontakt«, fügte er noch hinzu. »Und vielen Dank, dass Sie sich zur Verfügung stellen, Frau von Post.«
»Wir Menschen müssen uns doch in der Stunde der Not gegenseitig helfen«, erklärte die vollschlanke Freundin und zwängte sich hinters Steuer. »Wie soll es denn sonst laufen?«
Ja, wie
Weitere Kostenlose Bücher