Muss ich denn schon wieder verreisen?
fragte ich beim Abendessen und erwartete begeisterte Zustimmung, denn an den Führerscheinen der Zwillinge klebte noch die Druckerschwärze, und folglich begrüßten sie jede Gelegenheit, um Auto zu fahren.
»Nach München?« kam es gedehnt zurück. »Wann denn?«
»Am späten Vormittag.«
»Da haben wir Schule«, sagte Katja mit ungewohntem Pflichtbewußtsein.
»Aber schon um zehn Uhr aus und nachmittags keinen Unterricht.« Den Stundenplan hatte ich offenbar besser im Kopf als sie. »Ich hole euch ab, dann fahren wir von dort aus gleich weiter.«
»Geht nicht, wir haben das Volleyball-Turnier«, erklärte Nicki. »Ich bin aufgestellt.«
»Wenn du nicht mitspielst, gewinnen wir vielleicht mal«, murmelte ihre Schwester.
»Weshalb fährst du nicht mit dem Zug?«
Dieser Vorschlag konnte nur von meinem Ehemann stammen, der eine Eisenbahn bloß noch aus der Sicht des Autofahrers kennt, wenn er vor der geschlossenen Schranke steht. »Du hast keinen Streß, keinen Stau, kannst unterwegs gemütlich zu Mittag essen und kommst ausgeruht an.«
Mein körperliches Wohlbefinden lag ihm allerdings weniger am Herzen. Er sorgte sich lediglich um die Mädchen, denen er eine längere Autofahrt nicht zutraute. »Sie haben doch noch gar keine Routine.«
»Die kriegen sie auch nicht, wenn sie nur zur Schule und zur Disko fahren«, bellte ich zurück.
Die erwartete Zustimmung meiner Töchter blieb aus. Anscheinend hatten sie für übermorgen Pläne, von denen ich nichts wußte, und keine Lust, sie meinetwegen aufzugeben. »Also schön, dann fahre ich eben Bundesbahn.«
Damit war das Thema vom Tisch, bis mir einfiel, daß ich mich erst einmal mit den Fahrplänen vertraut machen mußte. »Sofern ihr eure Abneigung gegen das Autofahren überwinden könnt, wäre ich dankbar, wenn einer von euch am Bahnhof schnell mal meine Reiseroute erkunden würde.«
»Da ist jetzt zu«, sagte Katja lakonisch. »Um zehn vor sieben machen die doch den Laden dicht.«
Das allerdings stimmte. Der letzte Zug geht um Viertel nach sechs. Jetzt war es halb acht. »Na gut, dann muß ich mich morgen selbst darum kümmern.«
Mit dem Zug zu fahren ist umständlich, wenn man abseits der Hauptverkehrsstrecke liegt. Vor fünfundzwanzig Jahren hat Bad Randersau zwar die Stadtrechte erhalten, woraufhin die Hundesteuer erhöht und eine neue Realschule erbaut wurde, doch die Bundesbahndirektion hat von diesem Status bis heute keine Notiz genommen. Wir haben siebzehntausend Einwohner, verteilt über etwa dreißig Quadratkilometer. Flächenmäßig sind wir also eine Großstadt. Es existiert nämlich ein Kernort und acht Stadtteile, nur liegen die ein bißchen sehr außerhalb mit Wald oder Rübenfeldern dazwischen. Will jemand mit dem Zug verreisen, muß er erst einmal zum Bahnhof, und den gibt es nur im Kernort. Also wartet er zunächst auf den Linienbus. Der fährt alle paar Stunden und nie dann, wenn man ihn braucht; entsprechende Wartezeiten am Bahnhof sind demnach einzukalkulieren unter Berücksichtigung der Tatsache, daß es dort keine öffentliche Toilette gibt.
Der Zug bringt einen nach Heilbronn. Dort steigt man um. Hat man etwas Größeres vor, zum Beispiel eine Reise ins Ausland, muß man nach Stuttgart. Da ist der IC zwar gerade weg, doch der nächste kommt in einer Stunde. Oder etwas später. Dann allerdings verpaßt man in Basel seinen Anschluß nach Zürich.
Fahrten in nördlicher Richtung verlaufen so ähnlich. Hat man Glück, fährt der Triebwagen bis Heidelberg durch, wenn nicht, muß man vorher noch mal umsteigen. Die Zivilisation erreicht man ohnehin erst in Mannheim, und sollte das Reiseziel Hamburg oder Bremen heißen, fährt man erst mal über Hannover.
Da ich glücklicherweise im Kernort unserer großen Kleinstadt wohne, blieb mir wenigstens die Busfahrt erspart, doch die Reiseroute war auch so kompliziert genug. Mit dem Entenmörder nach Heilbronn (er hält an jeder Milchkanne und braucht entsprechend lange), dort selbst Zug- und Bahnsteigwechsel (vorgegebene Zeit fünf Minuten!), Weiterfahrt nach Stuttgart (sollte ich den Eilzug nicht mehr erreichen, kann ich etwas später den Bummelzug nehmen, der allerdings auf halber Strecke vom nächsten Eilzug überholt wird) und in der Landeshauptstadt endlich Anschluß nach München. Geschätzte Fahrzeit: dreieinhalb bis fünf Stunden. Je nachdem. Mit dem Auto dauert’s halb so lang. Ich stellte den Wecker auf sechs Uhr.
Koffer packen, aber womit? Dreiundzwanzig Grad Durchschnittstemperatur,
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