Muss ich denn schon wieder verreisen?
hinterlassenen Matheaufgaben gelangten wir zu dem Schluß, daß wir unseren Klassenraum mit einem etwas älteren Jahrgang teilten; Wurzelziehen hatten wir noch nicht gehabt.
Wer auf die Idee gekommen ist, weiß ich nicht mehr, aber geboren wurde sie während einer der tödlich langweiligen Biologiestunden, wenn wir unter der Bank Karl May lasen, Schiffe versenken spielten oder uns auf ähnliche Weise beschäftigten.
»Ich möchte zu gern mal wissen, wer noch auf meinem Platz hockt«, flüsterte die hinter mir sitzende Anita. »Das muß ein ausgemachtes Ferkel sein. Zwei Tintenflecke sind ja von mir, aber die anderen siebzehn gehen nicht auf mein Konto.« Sorgfältig umrahmte sie die Corpora delicti auf ihrem Tisch mit Rotstift. »Dem Kerl sollte man mal die Leviten lesen.«
»Tu’s doch!« flüsterte ich zurück. »Hinterlaß einfach einen Zettel unter der Bank.«
In der großen Pause brüteten wir gemeinsam über einem Schreiben, das zwar einerseits tadelnd, andererseits aber auch versöhnlich klingend Anitas Empörung zum Ausdruck bringen sollte. Da wir uns über die Anrede nicht einigen konnten – sie variierte zwischen »Lieber Mitbenutzer« bis zu »Altes Dreckschwein« –, verzichteten wir ganz darauf, und was schließlich auf der herausgerissenen Heftseite zu lesen war, klang ungefähr so: »Wenn Du Deinen Füller unbedingt in der Schule saubermachen mußt, dann bring das nächstemal wenigstens ein paar Löschblätter mit! Mein Tisch sieht inzwischen aus wie ein Blatt vom Polypodium (auch Gemeiner Tüpfelfarn genannt)!«
Am darauffolgenden Tag fanden wir prompt eine Antwort. »Welchen Tüpfelfarn meinst Du genau? Es gibt über 7000 Arten davon. Gruß, Bertram.« Und als PS stand drunter: »Die Flecken stammen übrigens nicht von mir, ich benutze nämlich grüne Tinte.«
Zu meiner Überraschung entdeckte ich unter meiner Bank ebenfalls einen Zettel. »Kannst Du Dein Butterbrotpapier nicht in den Papierkorb werfen, wo es hingehört?«
Eine hektische Suche unter allen Bänken setzte ein, und zum Teil war sie auch erfolgreich. Es hatten noch ein paar andere Knaben Kommunikationsversuche gestartet.
Von nun an herrschte ein reger Briefverkehr zwischen unserer Klasse und der Einquartierung. Persönliches wurde erzählt – mein Partner hieß Wilfried, war fünfzehn Jahre alt und wollte Förster im Grunewald werden –, die Lehrer wurden durchgehechelt, und gelegentlich gab es auch die nicht zu unterschätzende Hilfestellung speziell bei unlösbaren Matheaufgaben. »Ich kriege die Gleichung nicht raus, Du vielleicht?« Am nächsten Tag lag sie da und mußte nur noch ins Heft geschrieben werden.
Natürlich hätten wir ganz gern gewußt, wie unsere Briefpartner aussahen, aber so viel Courage, die vorgeschlagenen Treffen auch einzuhalten, hatten wir denn doch nicht. »Da geht bestimmt die ganze Illusion flöten«, meinte Gerda. »Ich stelle mir den Harald als gutaussehenden schwarzhaarigen Jüngling vor, so ähnlich wie Cary Grant, und in Wirklichkeit hat er vielleicht blonde Strähnen, Pickel und ’ne Nickelbrille. Nee, das lassen wir lieber.«
Irene korrespondierte mit einem Hans. Hatte sie uns anfangs noch die witzigen Briefchen gezeigt, so wurde sie im Laufe der Zeit immer zurückhaltender, behauptete, den Zettel schon weggeworfen oder verlegt zu haben, und wenn wir mal wieder gemeinsam etwas unternehmen wollten, hatte sie immer häufiger keine Zeit. Niemand ahnte, daß sie sich heimlich mit Hans getroffen und über beide Ohren verliebt hatte. Umgekehrt mußte es wohl so ähnlich gewesen sein. Einzelheiten erfuhr ich erst viel später, denn ich übersiedelte mit meiner Mutter nach Düsseldorf, und der Kontakt zu meiner Clique beschränkte sich bald nur noch auf gelegentliche Briefe, die mit den Jahren immer seltener und immer kürzer wurden.
Ich hatte gerade bei einer Kinderzeitung mit dem Erwerb meiner ersten eigenen Brötchen begonnen, als ich abends eine Vermählungsanzeige aus dem Briefkasten fischte. Irene hatte ihren Hans geheiratet. Auf der Rückseite stand: »Pickel hat er nicht mehr, aber er trägt eine Brille und sieht trotzdem gut aus.«
Als ich nach etlichen Jahren zum erstenmal wieder nach Berlin kam, hatte Irene bereits zwei Kinder und wohnte schon in dem Haus, das noch heute mein heimliches Entzücken ist. Hans hatte die väterliche Gärtnerei übernommen und nebenher den Versand von Blumenzwiebeln aufgebaut, indem er aus aller Herren Länder Knollen importierte und an einen immer
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