Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
kommen. Muße ist nicht auf das entspannte Nichtstun beschränkt, sondern kann uns in vielen Formen begegnen – in inspirierenden Gesprächen ebenso wie beim selbstvergessenen Spiel, beim Wandern oder Musizieren, ja selbst beim Arbeiten – kurz: in jenen Momenten, die ihren Wert in sich selbst tragen und die nicht der modernen Verwertungslogik unterworfen sind.
Man muss dabei ja nicht gleich so weit gehen wie die antiken Philosophen, für die es in der Muße um nicht weniger ging als um die Ausrichtung auf eine »göttlich vollendete Wesensschau«. Gelungene Mußestunden gewährten ihnen zufolge »Augenblicke in die Ewigkeit« und wurden daher als das eigentlich erstrebenswerte Ziel des Lebens im antiken Griechenland angesehen. 9 Wem das zu abgehoben klingt, dem sollte zumindest das Argument zu denken geben, dass wir Zeiten der Ruhe und der Zurückgezogenheit sowohl für unser seelisches Gleichgewicht brauchen als auch für die Entwicklung wirklich neuer Ideen. Deshalb hängte der französische Dichter Saint-Pol-Roux, wenn er sich zum Mittagsschlaf zurückzog, an seine Tür das Schild: »Poet bei der Arbeit«. Er wusste: Wirklich schöpferische Einfälle kommen uns am ehesten dann, wenn wir sie nicht mit aller Macht zu erzwingen versuchen. 10 Und das gilt beileibe nicht nur für die Poesie. Die abendländische Geistesgeschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, dass große Ideen aus der Muße geboren werden.
Legendär ist Isaac Newtons Entdeckung seiner Gravitationstheorie: Den zündenden Einfall hatte der Physiker nicht in der Studierstube, über seine Formeln gebeugt, sondern im heimischen Obstgarten, als er unter einem Baum saß und einen Apfel betrachtete (dass ihm dieser auf den Kopf fiel, ist allerdings eine unbewiesene Legende). Anderen großen Denkern kamen ihre besten Einfälle im Traum, beim faulen Herumliegen im Bett, am Strand oder auch beim Wandern (vor allem das philosophische Denken scheint vom Gehen ungeheuer angeregt zu werden).
Natürlich geht solchen Geistesblitzen meist eine Zeit intensiven Studierens und Nachdenkens voraus. Kaum eine Erleuchtung fällt vom Himmel, noch immer gilt das Diktum des Erfinderkönigs Thomas Edison, der bemerkte, Genie sei das Ergebnis von »1 Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration«. Doch fehlt dieses eine inspirierende Prozent, hilft auch aller Schweiß nicht weiter. Oft kommt der entscheidende Durchbruch gerade dann, wenn man ihn am wenigsten erwartet und das rationale Denken eigentlich mit etwas anderem beschäftigt ist.
Dass zwischen (scheinbarer) Untätigkeit und echter Leistungsfähigkeit ein inniger Zusammenhang besteht, demonstrieren übrigens auch Tiere. Wer je eine Katze beobachtet hat, weiß, wovon die Rede ist. Einerseits sind Katzen echte Meister der Entspannung, die sich mit wohliger Hingabe stundenlang auf dem Sofa räkeln können; doch wenn irgendetwas ihre Aufmerksamkeit fordert (das Geräusch einer Maus oder das vertraute Klappern der Futterdose), sind sie von einem Moment auf den anderen hellwach und hoch konzentriert.
Die Kunst der Absichtslosigkeit, des entspannten Nichtstuns im Tun, ist in unseren modernen, hektischen Zeiten allerdings zunehmend im Verschwinden begriffen. Bloß nicht zur Ruhe kommen, lautet die unausgesprochene Devise. »Stillstand ist Rückschritt«, predigen uns die Unternehmensberater, oder: »Wer aufhört, gegen den Strom zu schwimmen, wird abgetrieben.« Fragt sich nur, welcher Strom damit gemeint ist. Ist es wirklich der vermeintliche Hang zur Faulenzerei, gegen den wir permanent ankämpfen müssen? Oder sollten wir nicht heute eher üben, uns dem allgegenwärtigen Hang zum blinden Aktionismus entgegenzustemmen?
Fragt man Mediziner, fällt die Antwort eindeutig aus: »Wir bemerken, dass im Onlinezeitalter viele Menschen die Fähigkeit verlernt haben, geistig und seelisch offline zu gehen, also abzuschalten«, diagnostiziert etwa Götz Mundle, Psychotherapeut und Ärztlicher Geschäftsführer der Oberbergkliniken, in denen schwerpunktmäßig Erkrankungen wie Sucht, Burn-out und Depressionen behandelt werden. Die meisten seiner Patienten würden gar nicht bemerken, wie viel Stress die stete Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur Kommunikation bedeutet, sagt Mundle. »Wir alle wissen, dass wir bei einem Bürojob körperlichen Ausgleich benötigen, daher gehen viele ins Fitnessstudio. Den wenigsten ist aber bewusst, dass auch die Informationsflut geistig verarbeitet werden muss.« Viele seien mit dieser
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