Mustererkennung
Andenken.« Er drückt ihr das Ding in die Hand. »Ich möchte mich entschuldigen, daß ich Sie vorhin so bedrängt habe. Wenn wir wüßten, wie Sie an die Adresse gelangt sind, könnten wir eine Lücke im Sicherheitssystem rund um die Wolkowas schließen. Wir machen uns jetzt große Sorgen wegen Sigil. Aber Sergej sagt, die Firma ist für das Projekt der Wolkowas mittlerweile unverzichtbar geworden.«
»Sie haben angedeutet, daß mein Vater noch am Leben sein
könnte. Ich glaube das nicht.«
»Ich auch nicht, muß ich leider zugeben. Unsere Leute in
New York sind der Sache nachgegangen, sehr gründlich, und sie konnten keinen Nachweis erbringen, daß er tot ist, aber ich für mein Teil glaube dennoch, daß er nicht mehr unter uns weilt.
Sind Sie sicher, daß Sie uns in Sachen Sigil wirklich nicht behilflich sein wollen?«
»Ich kann Ihnen nichts sagen, weil ich nichts weiß. Aber bei Sigil selber gibt es keine undichte Stelle und auch keinen Verrä-
ter. Jemand mit Verbindungen zum Geheimdienst hat mir
einen Gefallen getan, aber wie er das genau angestellt hat, weiß ich nicht. Es ging jedenfalls unglaublich schnell.«
Er kneift die Augen zusammen. »Echelon. Natürlich.«
Dann lächelt er. »Ein Freund von Ihrem Vater. Das hab ich
mir doch gleich gedacht.«
Sie sagt nichts.
Er greift in sein Jackett und holt einen einfachen weißen Umschlag heraus. »Das hier ist auch für Sie«, sagt er. »Ein Geschenk von mir. Traditionalisten haben auch ihr Gutes. Unsere Leute in New York sind begabt und äußerst gründlich und verfügen über viele Möglichkeiten.« Er legt den Umschlag auf das rechteckige Wollstoffpaket, das sie immer noch wie ein Tablett vorm Bauch hält.
»Was ist das?«
»Alles, was über den letzten Morgen Ihres Vaters bekannt ist, ab dem Zeitpunkt, da er das Hotel verlassen hatte. Gute Nacht, Miss Pollard.« Und damit dreht er sich um und geht zurück in den Schatten des ovalen Saales, wo Sergej inzwischen, wie sie sieht, wieder an dem von Kerzenlicht erhellten Tisch sitzt, die Krawatte abgelegt hat und sich eine Zigarette anzündet.
42 MISSINGNESS
Bis auf die Tatsache, daß sie allesamt so aussehen, als ob sie bei Gap kaufen, scheinen die Insassen von Wolkows Rendering Farm keiner Uniformpflicht unterworfen zu sein. Als Cayce in Begleitung von Bigend und Parkaboy durch das Gebäude geht, sieht sie etliche von ihnen in den Hallen und auch auf dem Weg zum Gästehaus.
Der Zaun, über den sie gestiegen ist, wurde, wie Bigend erzählt, erst kürzlich errichtet, um die Jugend der umliegenden Dörfer daran zu hindern, hier einzudringen und Sachen zu stehlen.
Normalerweise seien hier sechzig Leute, sagt er, die ihre Schuld gegenüber der russischen Gesellschaft dadurch abtrü-
gen, daß sie, wie man es ihnen beigebracht habe, das Rohmaterial rendern, also die Filmsegmente aus dem Moskauer Studio.
Der Bau, ein ehemaliges Technikum, faßt aber eigentlich ein—hundertfünfzig Personen, wahrscheinlich ist das der Grund für die sommerlich-schläfrige Atmosphäre, denkt sich Cayce.
»Und was für Verbrechen haben die Leute begangen?« fragt sie, während sie in ihren Hausschuhen herumschlurft und Parkaboy Wolkows Geschenk für sie trägt.
»Nichts mit Gewalt«, sagt Bigend. »Das ist eine der Voraus—setzungen. Im allgemeinen haben sie einfach irgendwas falsch gemacht.«
»Was zum Beispiel?«
»Falsch eingeschätzt, wieviel Blat nötig war und wer drüber verfügte. Den falschen Beamten bestochen. Oder sich den falschen Mann zum Feind gemacht. Sergejs Rekrutierungstrupp verfolgt die Agenda der Gerichtstermine, die Urteilsverkündungen … Das entscheidende ist, daß man sie kriegen muß, bevor sie Opfer, und das meine ich buchstäblich, des normalen Gefängnissystems werden. Dann werden sie anderswo untersucht, medizinisch und psychologisch, und danach kommen sie hierher. Ich nehme mal an, manche schaffen es nicht.«
Um die Laterne auf dem stählernen Pfahl neben dem Beton—weg flattern die Motten, wirklich unheimlich, dieses Gefühl, als ob man während der Sommerferien über den Campus irgendeines heruntergekommenen Community College schlendert.
»Und was passiert, wenn sie ihren Abschluß haben?« fragt Cayce.
»So weit ist bis jetzt, glaube ich, noch keiner. Die Einrichtung ist ja noch recht neu, und in der Regel sind sie zu zwei bis fünf Jahren verurteilt. Hier läuft alles nach dem Motto ›kommt Zeit, kommt Rat‹. Wie überhaupt bei vielen Sachen in diesem Lande.«
Der Weg
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