Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
sterben will. Und bis zu diesem Moment konnte ich rein gar nichts für sie tun. Jetzt will ich meine letzten Kräfte noch einmal mobilisieren.
Im Hintergrund steht die Pflegerin. Tränen laufen ihr über die Wangen. Es scheint fast so, als wäre sie mehr ergriffen als wir.
Wie geht das eigentlich mit dem Sterben?, frage ich mich. Laut spreche ich meinen Gedanken aus: »Was müssen wir jetzt machen?«
Die Pflegerin hat einen Tipp: »Hier gibt es eine ambulante Sterbehilfe. Warum fragst du nicht, ob man euch hilft?«
Sie gibt mir eine Nummer, mit der ich zum Telefon eile. »Hallo, wir bräuchten Ihre Hilfe«, beginne ich das Gespräch.
Wie sagt man das jetzt? Meine Mutter möchte sterben. Nein, das stimmt ja so nicht. Wir konnten sie ja nicht fragen. Oder vielleicht so: Wir lassen gerade meine Mutter sterben. Unmöglich, wie das klingt. Himmel noch mal, wie soll ich nur anfangen?
Doch die Frau am Telefon macht es mir leicht. »Wir besprechen das in aller Ruhe«, gibt sie zurück. »Ich komme zu Ihnen. Wann ist es recht?«
»So bald wie möglich. Wir warten hier auf Sie«, antworte ich. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Zwei Stunden später sitzt die Mitarbeiterin des Hospizvereins, es ist eine Ordensschwester, bei uns im Wohnzimmer. Sehr ruhig bespricht sie mit uns den Sterbeprozess. Wir erfahren, was wir noch für unsere Mutter tun können. Beispielsweise den Mund mit speziellen Stäbchen auswischen. Zu essen bekommt sie nichts mehr, aber wir sollen Lippen und Mund mit Wasser befeuchten. Immer wieder dringen die rasselnden Atemgeräusche unserer Mutter zu uns.
»Sie braucht dringend ein Sauerstoffgerät«, empfiehlt die Schwester. »Das erleichtert ihr das Atmen.«
Wieder eile ich zum Telefon und rufe die ambulante Krankenpflege im Nachbarort an. Ja, sie haben ein Gerät, und ja, ich kann es gleich holen. Gott sei Dank!
Bevor die Schwester geht, frage ich sie noch: »Wie lange wird es denn dauern?«
Sie will sich nicht festlegen. »Das kann einige Tage gehen. Wann der Tod kommt, weiß niemand genau. Ich komme morgen früh wieder.«
Unser Vater nimmt an dem Gespräch nicht teil. Er will nicht über das Sterben reden. Wie schon all die Jahre zuvor akzeptiert er nicht, was gerade geschieht. Eigentlich akzeptiert er die ganze Krankheit nicht, und es sieht so aus, als ob er es Mutter persönlich übel nimmt, dass sie nun auch noch vor ihm sterben wird.
Nachdem die Schwester gegangen ist, setzen wir uns in Bewegung und organisieren die notwendigen Dinge. Spät am Abend fahre ich in den nächstgrößeren Ort, um die Morphiumpflaster zu besorgen. Immer wieder muss ich meine Augen auswischen, um überhaupt etwas sehen zu können. Und immer wieder füllen sie sich mit Tränen, als ob mich all die Jahre die hinter mir liegen, mit einer unendlichen Traurigkeit einholen würden.
Das Gespräch mit dem Apotheker lenkt mich ab, was die Rückfahrt weniger dramatisch macht. Nachdem ich die Medikamente zu meinen Eltern gebracht habe, fahre ich nach Hause. Nach den vielen Stunden bin ich total erschöpft. Ich sehne mich nach meiner Familie und nach meinem Bett. Inga will in dieser Nacht bei meiner Mutter bleiben.
Doch gleich am nächsten Morgen fahre ich wieder zu meinen Eltern. Inga steht schon an der Tür und erzählt im Flüsterton: »Die ganze Nacht ist dein Vater umhergeirrt. Er ist so unruhig. Raus auf den Flur, rein in die Toilette, dann wieder zur Mutter ans Bett. Es war furchtbar.«
Sie hat dunkle Ringe unter den Augen – kein Wunder nach der anstrengenden Nacht. Offenbar muss nicht nur unsere Mutter betreut werden, ihr Mann entwickelt sich zum größeren Problem.
Ich dränge mich an der Pflegerin vorbei ins Wohnzimmer. Mein Vater sitzt völlig in sich zusammengesunken in seinem Sessel und weint. Mir ist nicht klar, inwiefern er das Sterben von Mutter realisiert. Ich setze mich zu ihm.
»Vater, du weißt, dass die Mutti schwer krank ist.«
Er nickt und starrt auf den Boden.
»Sie will sterben. Das weißt du auch, oder?«, presse ich hervor.
Dieses Mal nickt er nicht. Bewegungslos sitzt er da.
Ich nehme einen neuen Anlauf. »Wir müssen ihr helfen. Findest du nicht, dass wir ihr das schuldig sind?«
Ich dringe zu ihm durch. Für eine Sekunde sieht er mich an und nickt. Aber schon im nächsten Moment starrt er wieder auf den Boden. Mir langt dieser Augenblick jedoch. Ich weiß, dass ich meinen Vater kurz erreicht habe.
Sekunden später murmelt er: »Wenn ich sterbe, interessiert das ja keinen.«
Aber ich
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