Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
Vater fragt nach mir, denke ich. Und schon packt mich wieder das schlechte Gewissen, weil es zwei Wochen her ist, dass ich zu Besuch war. Immer dieses schlechte Gewissen! Obwohl ich mir eine Liste gemacht habe, warum ich kein schlechtes Gewissen haben muss. Ich habe sie in meinem Zimmer aufgehängt mit folgenden Worten:
Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, weil …
… eine Tochter nicht zwangsläufig eine Pflegerin sein kann
… du immer nett und freundlich zu deinen Eltern bist
… du jedes Weihnachten bei ihnen ausgehalten hast, auch wenn es manchmal beschissen war
… du sie an tausend Abenden durch Gespräche glücklich gemacht hast
… du dafür sorgst, dass sie zu Hause rund um die Uhr gepflegt werden
… du ihr Haus und ihr Geld optimal verwaltest
… du ihnen die Hand hältst, wenn sie es möchten
… du immer freundlich bleibst, auch wenn der Vater übellaunig ist
Diese Liste erweitere ich stets, wenn mir noch etwas einfällt. Sie erinnert mich daran, dass ich viel leiste und mehr nicht geht. Sie hilft mir, mein schlechtes Gewissen im Zaum zu halten.
Nachdem mein Vater schon anrufen lässt, habe ich nun doch das Gefühl, dass ich dringend erwartet werde. Da meine Tochter dafür gesorgt hat, dass meine Laune auf dem Tiefpunkt ist, riskiere ich nichts, wenn ich gleich nach der Arbeit zu ihm gehe.
Am Elternhaus angekommen, finde ich meinen Vater auf der Terrasse vor. Er sitzt in der Sonne mit seiner dicken Sonnenbrille, die er für seine kranken Augen braucht. Ein altbekanntes Gefühl, wie es nur Töchter ihren Vätern gegenüber kennen, regt sich in mir, doch ein Blick in sein Gesicht verrät, dass er keine gute Laune hat.
»Hallo, Vater«, begrüße ich ihn freundlich in der Hoffnung, dass ich mich getäuscht habe.
»Hallo. Ach, du bist es, Martina«, antwortet er. »Na endlich kommst du mal.«
»Ja, ich bin es. Wieso denn endlich? Ich bin doch gleich gekommen, als Inga angerufen hat. Was gibt es denn?«, frage ich ihn.
»Hier macht jeder, was er will«, sagt er.
»Was meinst du damit?«, frage ich zurück.
»Keiner kümmert sich um deine Mutter«, erklärt er.
Ich versuche mit bohrenden Fragen herauszufinden, was er meint. Er beschwert sich über die späte Zeit, zu der Inga morgens kommt. Darüber, dass es nichts Ordentliches zu essen gibt und dass er jetzt auch kein Bier mehr bekommt. Dabei lässt er durchklingen, dass das alles passiert, weil ich nicht rechtzeitig gekommen bin. Und um ihn kümmere sich erst recht keiner, fügt er noch an.
Natürlich kann ich nicht sicher sein, ob er mir die Wahrheit sagt, deswegen muss ich der Sache auf den Grund gehen. In der Küche lasse ich mir von Inga zeigen, was es mittags zu essen gab, und frage sie, wann sie morgens herunterkommt.
Alle Vorwürfe erweisen sich sehr schnell als haltlos. Die Lebensmittel sind vielfältig und frisch, Bier war nur am Abend zuvor keines mehr da, es wird wieder gekauft, und wie immer morgens um acht Uhr kommt Inga zu den Eltern.
Ich konfrontiere meinen Vater mit den Recherchen. Er sagt nichts dazu, sondern schaut nur mit verkniffenem Gesicht auf den Boden. Wie ein kleiner Schuljunge, der beim Schwindeln erwischt wurde und jetzt sauer ist. Es ist offensichtlich, wozu das dienen sollte. Er konstruiert Probleme, damit ich öfter komme und er dabei im Mittelpunkt steht. Ich lasse mich aber nicht mehr darauf ein, denn das Spiel ist mir bestens bekannt. Wie oft habe ich mich von seinen Geschichten verrückt machen lassen. Nicht nur ich bin in der Vergangenheit darauf hereingefallen. Nahezu alle haben anfangs nicht bemerkt, dass nicht immer alles stimmt, was mein Vater erzählt. Es ist kaum möglich zu unterscheiden, wann er die Wahrheit sagt und wann es schlichtweg geschwindelt ist, was er behauptet. Fraglich, ob er selbst es noch auseinanderhalten kann.
»Weißt du, Vater, wenn du immer solch haltlose Anschuldigungen machst, hebt das nicht die Stimmung«, sage ich.
»Meinst du?«, gibt er zurück. Grimmig schaut er mich an. Er ist beleidigt und will nicht mehr mit mir reden. Unser Gespräch führt zu nichts, deswegen erhebe ich mich.
»Servus. Ich geh jetzt«, verabschiede ich ihn und rausche davon.
Ich habe mich geirrt in der Annahme, dass meine Stimmung an diesem Tag nicht mehr schlechter werden kann. Sie kann sehr wohl noch schlechter werden. Denn vorher war ich nur wütend wegen meiner Tochter. Jetzt aber bin ich zusätzlich maßlos enttäuscht von meinem Vater.
Es nimmt einfach kein Ende.
Ich bin so
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