Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
Tochter. »Wenn du mal so alt bist, wirst du sehen, wie das ist.«
Wie oft ich ihr schon erklärt habe, dass ihre Oma nicht mehr leben will! Sie hatte ihr Leben, das nicht das schlechteste war. Aber jetzt ist es Zeit für sie zu gehen.
Lena will ihre Großmutter nicht hergeben. Für mich ist es erstaunlich, wie viel sie ihr bedeutet, obwohl sie seit Jahren kaum mit ihr sprechen konnte. Noch einmal versuche ich, meiner Tochter klarzumachen, dass es schon lange der ausdrückliche Wunsch ihrer Oma ist zu sterben. Irgendwann sieht sie ein, dass es tatsächlich besser ist. Erst am Nachmittag hat sie meine Mutter besucht und selbst gesehen, wie schlecht es ihr geht.
Die Pflegerin erwartet mich schon, denn sie ist müde vom Tag und will nach Hause. Mein Vater liegt im Bett. Angeblich hat er eine Schlaftablette bekommen, damit er eine ruhige Nacht hat.
Mein Lager baue ich im Wohnzimmer neben dem Bett meiner Mutter auf. Einige Zeit bleibe ich bei ihr sitzen, streichle ihre Hand, dann nehme ich mein Notebook und hocke mich auf die Couch. Doch ich kann mich nicht konzentrieren. Nicht weit von mir liegt meine Mutter im Sterben. Ich höre ihren rasselnden Atem. Ihr Stöhnen wird immer lauter. Jeder Atemzug ist begleitet von einem schweren Ächzen. Nach zwei Stunden bin ich nass geschwitzt. Immer wieder stehe ich auf, wechsle zwischen dem Sessel an ihrem Bett und dem Platz auf der Couch hin und her.
So habe ich mir das nicht vorgestellt. Bis auf das Ächzen meiner Mutter ist es gespenstisch still im Haus. Im Zimmer brennt nur eine kleine Lampe, denn meine Mutter soll sich nicht gestört fühlen. Bilder vom Brandner Kaspar, der mit dem Tod Karten spielt, tauchen vor mir auf. Als kleines Mädchen habe ich diesen Film oft mit meiner Mutter angesehen. Uns gefiel die Szene, in der der Brandner Kaspar den Tod betrügt, am besten. Doch meine Mutter würde mit dem Tod jetzt nicht feilschen, da bin ich mir ziemlich sicher. Der Gedanke ist für einen kurzen Augenblick tröstlich.
Immer wieder spreche ich mit ihr oder wische ihr das Gesicht mit einem trockenen Tuch ab. Meine Mutter hatte schon immer ein starkes Herz. In diesen Tagen ist das kein Segen für sie. Warum tut sie sich nur so schwer mit dem Sterben?, frage ich mich.
Plötzlich lässt mich ein Geräusch aufschrecken. Ich fahre aus dem Sessel hoch, drehe mich um und sehe schemenhaft eine Gestalt auf dem Boden. Fast hätte ich einen Schrei ausgestoßen, schlage aber reflexartig die Hand vor den Mund.
Es ist mein Vater.
»Was machst du?«, frage ich.
Er antwortet nicht. Verwirrt kriecht er in Richtung Bad. Ich gehe zu ihm.
»Vater, ich helfe dir jetzt aufzustehen, ja?«
Er sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Komm, bitte! Geh wieder ins Bett«, flehe ich ihn an.
Mühevoll versuche ich, ihn wieder in sein Bett zu bringen. Ich zerre unbeholfen an ihm. Einen Mann hochzuheben, der nicht mithelfen kann, ist für eine ungeschulte Person nahezu unmöglich. Aber da ich völlig allein im Haus bin, auch Inga ist nicht da, müssen wir es schaffen. Es dauert fast zwanzig Minuten, bis es mir gelingt, ihm zurück ins Bett zu helfen. Was er vorhatte, bekomme ich nicht heraus. Es scheint, als ob er gar nicht richtig wach gewesen wäre. Ich gehe aus seinem Schlafzimmer und schließe fest die Tür. Am liebsten hätte ich sie abgesperrt, so gruselig empfinde ich die Situation.
Kaum bin ich wieder bei meiner Mutter, wird ihr Stöhnen lauter. Es ist zwei Uhr nachts, und ich habe noch keine Sekunde geschlafen. Spätestens jetzt ist mir klar, dass ich auch den Rest der Nacht nicht mehr schlafen werde.
Meiner Mutter geht es offensichtlich schlechter. Ihr Atmen ist schwerer geworden. Es hört sich so an, als ob sie keine Luft mehr bekäme. Leidet sie? Wer kann mir das beantworten? Ich bin mir nicht sicher, denke aber, dass ich nicht viel falsch machen kann. Die Packung mit dem Morphiumpflaster liegt auf dem Nachttisch, den Beipackzettel zu lesen macht keinen Sinn. So treffe ich die Entscheidung, ihr ein weiteres Pflaster auf die Haut zu kleben.
Erschöpfung, Enttäuschung und Trauer ergreifen im Übermaß Besitz von mir. Weinend sitze ich neben meiner Mutter und bitte sie um Verzeihung. Irgendwie habe ich plötzlich das Gefühl, sie hat es mir zu verdanken, dass sie so einen schweren Tod hat. Es ist mir nicht gelungen, sie würdevoll sterben zu lassen.
Doch was hätte ich tun können, um sie vor diesem schweren Weg zu bewahren? Hätte ich dem Arzt mehr zusetzen sollen, damit er ihr
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