Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
hilft, den unvermeidlichen Weg etwas zu verkürzen? Hätte ich etwas erreichen können? Oder dürfen Ärzte keine Meinung zum Tod haben?
Tränen laufen mir in Strömen über die Wangen, und ich frage mich: Warum nur können wir den Menschen das Sterben nicht erleichtern? Meinen Hund Sugar durfte ich von seinem Leid erlösen, meiner Mutter darf ich nicht helfen.
Noch vor ein paar Tagen war ich zu allem entschlossen, doch jetzt verlässt mich die Stärke. Es ist Nacht, ich sitze neben einem sterbenden Menschen, neben meiner Mutter. Und ich fühle mich so verdammt allein.
Mein Vater leidet ein Zimmer weiter auf seine Weise. Einmal mehr denke ich darüber nach, was das für einen Sinn macht. Und irgendwann gelingt es mir, wieder die Verbindung zu meiner Mutter herzustellen. Hier liegt nicht irgendein Mensch, nein, hier liegt meine Mutter. In all den vergangenen Jahren ist das Bewusstsein dafür verloren gegangen. Durch die Grausamkeit der Krankheit, die ihr die Persönlichkeit genommen hat, habe ich den Kontakt zu ihr verloren.
Plötzlich erinnere ich mich an die Gespräche mit ihr über das Sterben und über den Tod viele Jahre zuvor. Als Kind war ich fest überzeugt, dass meine Eltern unsterblich sind. Immer wenn ich mit meiner Mutter darüber sprach, entsetzte mich der Gedanke, dass sie irgendwann mal nicht mehr da sein könnten, und jetzt wünsche ich mir ihren Tod.
Während mir all diese Dinge durch den Kopf geistern, fällt mir auf, dass meine Mutter ruhiger atmet. Gut so! Ich spüre Erleichterung, denn ich bin so erschöpft. Vielleicht kann ich ja doch noch ein wenig schlafen.
So lege ich mich auf die Couch, fest in meine Decke eingewickelt und schließe für einen kurzen Moment die Augen. Gleich darauf lässt mich ein lauter Knall hochschnellen. Das Geräusch kommt aus dem Schlafzimmer meines Vaters. Ich laufe nach nebenan, um zu sehen, was passiert ist. Mein Vater liegt vor seinem Bett und sucht etwas. Seine Hände gleiten ziellos über den Fußboden.
»Meine Güte, Vater!«, fahre ich ihn an, »was machst du denn da? Suchst du etwas?«
Er antwortet nicht. Ich gehe zu ihm und berühre seine Schulter. »Hallo! Hörst du mich?«, rufe ich und schüttle ihn leicht.
Er sieht mich mit einem verständnislosen Blick an. So, als ob ich ihn etwas Unerhörtes gefragt hätte. »Vater, bitte geh wieder ins Bett!«, flehe ich ihn an.
Langsam habe ich das Gefühl, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Hier der Vater, der völlig verwirrt durch die Gegend kriecht, und dort meine Mutter, die nicht sterben kann.
Es gelingt mir, ihn auf die Beine zu stellen. In der Annahme, er müsse zur Toilette, begleite ich ihn dorthin. Aber dahin will er gar nicht, er steuert zielstrebig auf die Haustür zu. Es kostet mich viel Mühe, ihn davon abzubringen, auf die Straße zu laufen. Erst als ich flehend auf ihn einrede, lenkt er ein. Mit viel Kraft und Geduld manövriere ich ihn wieder ins Bett.
Zurück bei meiner Mutter bemerke ich, dass sich ihr Zustand verschlechtert hat. Wieder setze ich mich zu ihr und halte ihre Hand, sie fühlt sich weich an. Ich bin sicher, sie bemerkt es nicht.
Nur zu gern hätte ich jetzt das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Eine gute Tochter gewesen zu sein. Aber ich fühle mich hundeelend. Ist das hier meine Schuld? Habe ich wirklich richtig entschieden? Warum ist der Tod nur so ein schreckliches Tabuthema, wenn das Leben meiner Mutter in den letzten Jahren doch so viel schrecklicher gewesen ist?
Das Stöhnen und Keuchen meiner Mutter wird immer lauter. Ich halte ihre Hand. Oder halte ich mich daran fest? Irgendwann sage ich ganz leise, dann immer lauter: »Stirb jetzt endlich, Mutti! Bitte, stirb jetzt. Du kannst jetzt gehen. Geh! Bitte geh.« Immer wieder und immer wieder sage ich das. Dabei wische ich ihr die Stirn ab und halte ihre Hand.
Dann plötzlich, um sechs Uhr morgens, hört sie auf zu atmen. Einen Augenblick später stöhnt sie noch einmal laut auf, und für eine Sekunde steht die Welt für mich still. Ich halte die Luft an. Ein letzter leiser, hörbarer Hauch entweicht ihrem Körper. Es ist vorbei. Sie hat es geschafft!
Als ich wieder einatmen will, schluchze ich auf, und dann beginne ich, haltlos zu weinen. Ich kann nicht mehr aufhören. Ich weine um sie und um mich und um all die sinnlosen, grausamen Jahre, die nun endlich hinter uns liegen.
Epilog
Die Wochen nach dem Tod meiner Mutter sind für meinen Vater eine Qual. Er ist fest entschlossen, ebenfalls zu
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