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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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bedürften der Aktualisierung. Der Professor Feinlein müsse längst Feinstlein heißen.
    Anklopfen musste Percy nicht. Mit diesem Privileg war Percy schon ausgezeichnet worden, als er noch in der Pflegerschule war. Professor Feinlein war von allen, die die Pflegeschüler lehrten, der beliebteste Lehrer. Nach dem ersten Jahr fing er an, Percy auszuzeichnen. Zwei Auszeichnungen überragten alles andere: Der Professor wollte, dass Percy Latein lerne, und er selber wollte Percys Lateinlehrer sein. Und Percy sollte Orgel lernen. Auch da wurde er Percys Lehrer. Die Orgelstunden fanden nicht in der Stiftskirche statt, sondern auf der Orgel im Bibliothekssaal. Und die oberste Sekretärin, Frau Meyer-Horch, hatte den Schlüssel, und sie konnte zu keinem Menschen einen Satz sagen, in dem nicht eine Freundlichkeit vorkam, mit der in diesem Augenblick nicht zu rechnen gewesen war. Also wurde jedes Orgelschlüsselabholen für Percy zur reinen Ermunterung. Die Orgel war eingebaut worden, als aus dem Kloster schon eine Anstalt geworden war, damit Gottesdienste für Patienten beider Konfessionen stattfinden konnten.
    Obwohl die Türen aus der Klosterzeit wuchtig und schwer waren, hörte Percy die Musik. Er trat ein und setzte sich gleich auf den gepolsterten Stuhl neben der Tür. Der Professor nickte. Eine Bass-Stimme sang gerade: Esurientes implevit bonis et divites dimisit inanes.
    Als das letzte Amen verklungen war, sagte der Professor: Das wurde hier gesungen: Die Bedürftigen überhäuft er mit Gütern, die Reichen kriegen nichts. Sooft er das höre, er fasse es nicht. Jubel, Innigkeit, Höhenschwung, also wenn Gott Ohren hat, muss er hin gewesen sein von dieser höchstmöglichen Musik. So haben sie sich in die Höhe musiziert, dass sie nicht haben hören müssen, wie draußen, rundherum, geschrien wurde. Vor vierhundertzweiundachtzig Jahren haben die Bauern diese Musik gestört. Fecit potentiam in brachio suo, dispersit superbos mente cordis sui. Ich habe einmal mitgezählt: Zwölf Mal nach einander lässt der Komponist singen, dass der Herrgott mit seinem Arm Gewalt ausübt und die Hochmütigen verjagt. Keine Zeile wird öfter gesungen als die. Und hat doch selber zu den Mächtigen gehört, der Komponist Betscher, der auch ein Reichsprälat war, drüben in Rot an der Rot. Könnte es sein, Percy, dass jede Zeit gleich unempfindlich ist, unempfindlich durch Sensibilität, durch Kultur, durch Schönheit gegenüber dem, was sie anrichtet? Auf jeden Fall hat jede Zeit ihre eigene Musik, dass nicht gehört werden muss, wie geschrien wird.
    Weißt du, wie die Herrschaft die Erbschaftssteuer definierte? Starb der Bauer, musste das beste Ross geliefert werden, war es die Bäuerin, die starb, war die beste Kuh fällig, vor allem aber, egal ob von Mann oder Frau, der beste Mantel, und der wurde so definiert: Das ist der Mantel, den der Verstorbene oder die Verstorbene beim Kirchgang getragen hat. Komm.
    Und ging zur Tür, die in den ehemaligen Kapitelsaal führte. Percy folgte.
    Im Kapitelsaal hatten sich in der Klosterzeit die Chorherren versammelt, in der Krankenhauszeit war es der Sitzungssaal für die Ärzte gewesen. Der Kapitelsaal war nicht wie die Prälatur durch einen Gang von der Südwand getrennt. Der Professor ging zu einem Fenster, öffnete es. Percy stand und schaute. Über den Klosterhof hinaus, an der Stiftskirche vorbei, sah man in eine Wiese voller Ziegen. Geißen, rief Percy, so viel Geißen!
    Und der Professor: Mehr als hundertfünfzig sind es im Augenblick sicher nicht.
    Ich mag Geißengemecker, sagte Percy.
    Dr. Bruderhofer hat für mich den Namen Vater aller Geißen in Umlauf gesetzt.
    Versteh das nicht falsch, sagte Percy. Das ist eine Auszeichnung. Und wo wohnt die biblische Schar?
    Ganz draußen, sagte der Professor. Hinter den Glashäusern. Was du da gleißen siehst, sind Glashäuser. Die ziehen ihre Dächer ein, sobald es den Tomaten, den Kiwis und den Pfirsichen warm genug ist. Das hat ihnen ein Patient beigebracht. Ein Erfinder, dem draußen die Patente gestohlen wurden, sogar, sagt er, vom Patentamt. Die erste automatische Presse, sagt er, ist von ihm. Und so weiter. Du kennst die Schmerzensballade unserer Patienten. Aber ein Erfinder ist er, bloß, draußen hat ihm das nichts genützt. Ich habe ihn zum Technischen Direktor ernannt. Percy, wir sind ein Wirtschaftsfaktor. Und die ganze Gegend macht mit. Statt mit Korbflechten und Scherenschnitten die Zeit totzuschlagen, arbeitet jetzt, wer kann und will,

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