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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Spiegel sitzen und zuschauen, wie deine Ohren, je länger geschnitten wird, immer größer werden. Dann grinst du natürlich. Und grinsend gefalle er sich überhaupt nicht. Dass er aussehe wie ein Clown, wisse er, aber er wolle es nicht auch noch sehen. Dann mach doch die Augen zu, habe Massimo zu ihm gesagt. Das sei ihm zu feierlich, habe Percy geantwortet.
    Zwei Tage bevor er von der Insel Rheinau abreiste, habe Percy sich die Haare noch einmal schneiden lassen. Er war so lustig wie immer. Nein. Er war nicht immer lustig. Vielleicht nie. Ich meine, er war so leicht wie immer. Er war immer auffallend leicht. Ansteckend leicht. Bevor er diesmal aufgestanden ist, hat er den Kopf zu mir heraufgedreht und gesagt: Massimo, wenn ich wieder mal einen Vater adoptiere, dann bist du dran. Wir lachten.
    Und er: Du musst mir aber etwas versprechen.
    Schon versprochen, habe ich gesagt.
    Und er: Du musst mir versprechen, dass du noch lange lebst.
    Nichts lieber als das, hab’ ich gesagt.
    Und er: Ich habe es satt. Diese Sterberei. Rundherum. Und bevor er ging, gibt er mir noch ein Päckchen. Ich komm’ doch zu nichts, sagt er, und feig bin ich auch, gib du das der Sandra. Was von Ewald übrig gelassen worden ist. Ich schaff’ es einfach nicht.
    So erzählte Massimo Attanasio. Wir fragten dann, wie er sich diese Tat erkläre, diese Erschießung.
    Da bat er um ein Blatt Papier und um einen Kugelschreiber. Was er bis dahin gesagt hatte, kam nicht so heraus, wie es hier jetzt zu lesen steht. Er hatte erhebliche Sprechschwierigkeiten, ein Stottern, das wir in der Schriftform nicht imitieren wollten. Er sagte, dass sein Stottern bis zu jenem 24. Dezember geheilt gewesen sei und dass er hoffe, die große Logopädin und Stimmbildnerin Elsa Frommknecht werde ihn wieder heilen. Dann, als wir nach einem Motiv für diese Tat fragten, nahm er das angebotene Stück Papier und schrieb darauf:
    Als Percy vom Haarscheiden aufgestanden ist, hat er mich ein bisschen zu sich hingezogen, dann hat er fröhlich gesagt: Massimo! Die Welt ist eine Missgeburt, darum liebe ich sie so.
    Dann zog Massimo Attanasio ein Kuvert aus der Tasche, das habe Anton Percy Schlugen ihm zuletzt noch gegeben. Auf dem Kuvert stand: Ein letzter Wunsch. Im Kuvert ein Blatt. Auf die Frage, ob wir das drucken könnten, sagte er: Ja.
    Mit diesem letzten Wunsch beenden wir vorerst die Berichterstattung über den Fall Anton Percy Schlugen.
     
     Ach,
    wer möchte nicht enthoben sein,
    durch Lüfte gehen und Sümpfe
    und schnupfen ab und zu eine
    Portion Unsterblichkeit.
    Hätte der Tag die Farbe Rot,
    wär es mein Tag. Die Gräser singen im Chor,
    sobald ich erscheine, weil ich
    der Fürst der Freundlichkeit bin.
    Ein Feldherr bin ich auch. Zum Glück
    sind meine Truppen desertiert. Sind
    Räuberbanden geworden auf eigene
    Rechnung. Ich gelte nicht viel, weil sich
    vor mir niemand fürchten muss und Angst,
    wohin ich komme, ein Fremdwort ist.
    Ich trink’ den Tod aus jedem Glas
    und feiere den Augenblick lauter
    schweigend jeden Tag. Die Zeit
    hab ich eingesperrt in eine Streichholzschachtel.
    Der Raum dient, Kant zu strafen, mir als
    Klopapier. So herrscht Freiheit,
    wo ich wohne. Ich bin natürlich ein Stern.

Über Martin Walser
    Martin Walser, geboren 1927 in Wasserburg, lebt in Überlingen am Bodensee. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» ernannt.

Über dieses Buch
    Wovon handelt dieser Roman? Es ist leichter zu sagen, wovon er nicht handelt. Er handelt von 1937 bis 2008, kommt nicht aus ohne Augustin, Seuse, Jakob Böhme und Swedenborg, handelt aber vor allem von Anton Percy Schlugen.
     
    Seine Mutter Josefine, Fini genannt, ist Schneiderin; sie lebt, auch als sie mit einem Mann zusammenlebt, allein. Jahrelang schreibt sie Briefe an Ewald Kainz, der auf den Stufen des Neuen Schlosses in Stuttgart eine politische Rede hielt. Die Briefe schickt sie nicht ab; sie liest sie ihrem Sohn vor und vermittelt ihm so, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei.
     
    Mit diesem Glauben lebt Percy. Er wird Krankenpfleger im psychiatrischen Landeskrankenhaus Scherblingen, wird gefördert von Professor Augustin Feinlein und eines Tages mit einem Fall betraut, an dem die Ärzteschaft fast verzweifelt. Es geht um einen Suizidpatienten,

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