My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
1. KAPITEL
Viele Leute hatten Olivia Fenimore geraten, nicht ohne Begleitung zu reisen, auch nicht in der Postkutsche. Eine junge unverheiratete Dame, die keinen Vater oder Bruder hatte, der ihr zur Seite stehen konnte, war zumindest auf den Schutz einer älteren Frau angewiesen oder, in Ermangelung einer geeigneten Dame, auf eine Zofe, was der Schicklichkeit ebenfalls Genüge tat.
„Im Augenblick habe ich keine Zofe“, hatte Olivia wohlmeinenden Freunden fröhlich erwidert. „Meine liebe Katy Murphy hat sich geweigert, die Irische See mit mir zu überqueren. Aber als Beschützerin habe ich sie ohnehin nie betrachtet. Wenn ich mich im wilden, aufrührerischen Irland gefahrlos bewegen konnte, wird mir in diesem gesetzestreuen Königreich auch kein Unheil widerfahren.“
Olivia stammte aus einem verarmten, in Suffolk ansässigen unbedeutenden Adelsgeschlecht, hatte indes so lange in der Gegend von Dublin gelebt, daß sie sich ein wenig wie eine Irin fühlte und die Engländer für reichlich spießig hielt.
Natürlich hatte sich auf der langen Fahrt von London kein Zwischenfall ereignet.
Olivia hatte sie genossen und sogar die Nacht in einer Poststation verbracht, in einem netten Raum, zu dem ein privater Salon und der Dienst eines aufmerksamen Zimmermädchens gehörte. Nun war sie fast am Ziel der Reise und mußte nur noch einmal die Kutsche wechseln, um nach Parmouth zu gelangen.
Das Gefährt ratterte nach Brantisford hinein, einem weiteren von vielen grau und unansehnlich wirkenden Städtchen, und hielt auf dem Hof der Herberge, die genauso aussah wie die „Roten Löwen“, „Grünen Männer“, „Weißen Hirsche“ und all die anderen Unterkünfte mit Namen dieser Art, in denen Olivia unterwegs Station gemacht hatte.
Im Nu hatten die beiden Postillone sich aus den Sätteln geschwungen, schirrten das Gespann aus und führten es zu den Stallungen. Olivia sammelte die wenigen ihr gehörenden Gepäckstücke ein und schickte sich an, das Fahrzeug zu verlassen. Das ärgerlichste am Reisen war das dauernde Umladen der Taschen, Beutel und Köfferchen in eine andere Kutsche, die zwei frische Pferde hatte.
Ein Diener kam aus dem Wirtshaus und öffnete den Wagenschlag. Seine Frage, ob die Dame Erfrischungen wünsche, ging im Lärm von Hufgetrappel und Räderrollen unter, als ein anderes Gefährt mit großer Geschwindigkeit auf den Hoffuhr. Es handelte sich um eine elegante Karriole, die von einem Herrn mit keck sitzendem Kastorhut gelenkt wurde. Er trug einen grünen Cutaway, enganliegende Breeches und glänzende Stiefel, hatte ein klassisches Profil und strahlte befehlsgewohnte Selbstsicherheit aus.
Der Bedienstete wandte sich von der Dame ab, starrte den Gentleman an und rief erstaunt: „Nanu, Mr. Brooke! Sie sind doch wieder zu uns zurückgekehrt?
Was kann ich für Sie tun, Sir?“
„Sie können mir einen Krug Bier zapfen, Blackett“, antwortete Tom Brooke. „Ich habe einen Heidendurst!“
Ohne die Dame weiter zu beachten, trottete Joseph Blackett in den Gasthof, während Stallknechte herbeiliefen und das Gespann der Karriole ausschirrten.
Innerlich vor Zorn bebend blieb Olivia in der Berline zurück. Der Diener hatte nicht einmal die Trittstufen zum Aussteigen heruntergeklappt. Doch das sollte Olivia nicht daran hindern, in die Herberge zu marschieren und sich Geltung zu verschaffen. Manche Frauen mochten darum betteln, daß Männer ihnen halfen, sie hingegen war fest entschlossen, zu ihrem Recht zu kommen. Sie raffte den engen Rock des gelben Kattunkleides bis zu den Fußknöcheln, beugte sich aus dem offenen Wagenschlag und hüpfte aus der Kutsche. Sie landete hart auf der Erde und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Gewohnt, zu reiten und die Balance zu halten, fing sie sich jedoch schnell und blieb aufrecht stehen.
„Bravo!“ sagte Tom belustigt. „Das war ein hübscher Sprung! Nur wenige Damen wissen sich beim Aussteigen zu helfen, wenn kein Gentleman in der Nähe ist.“ Oliva sah den Herrn im grünen Cutaway sich mit einer Zinnkanne in der Hand nähern. Bevor sie zu dem Entschluß gelangt war, auch ohne männliche Unterstützung die Berline zu verlassen, hatte der Mann noch mit seinem Reitburschen und den Stallknechten des Gasthofes geredet. Sie warf ihm einen frostigen Blick zu. Es schickte sich nicht, daß ein Fremder eine Dame im Hof einer Herberge ansprach; doch weil sie nicht widerstehen konnte, ihm eine passende Antwort zu geben, erwiderte sie kühl: „Hätten Sie nicht so viel
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