My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
sich, was wohl geschehen wäre, hätte sie sich ihm angeschlossen. Bestimmt hätte er mit ihr geflirtet. Vielleicht wäre er sogar noch eine Spur weitergegangen und zudringlich geworden. Gewiß, sein Reitknecht wäre anwesend gewesen, doch bekanntlich hüteten sich die Bediensteten solcher Männer, ihrem Herrn ins Gehege zu kommen.
Wie hätte ich mich wohl verhalten, wäre ich von Mr. Brooke geküßt worden? ging es Olivia durch den Kopf. Aber es war müßig und ganz und gar unpassend, über solche Dinge nachzugrübeln. Da sie zum ersten Male durch Devon reiste, blickte sie aus dem Fenster auf die sanft gewellten Hügel und grünen Wälder, die sich vor der noch nicht sichtbaren Küste erstreckten.
Ihr Vater war beim Militär gewesen und hatte in erster Ehe die Tochter eines im Ostindienhandel reich gewordenen Kaufmannes geheiratet. Olivia war neun Jahre alt, als die Mutter in Irland starb, wo der Vater damals stationiert gewesen war.
Unter den gegebenen Umständen hatte er das einzig Vernünftige getan und sich nach Ablauf des Trauerjahres ein zweites Mal verheiratet, mit einer hübschen, gutmütigen Irin, die Anfang Zwanzig und der sehr lebhaften, anhänglichen Olivia zunächst nicht nur eine gute Stiefmutter, sondern im Laufe der Zeit sogar eine schwesterliche Freundin war.
Sieben Jahre nach der Hochzeit mit Geraldine war Colonel Fenimore gestorben, und Tochter und Gattin hatten seinen Verlust gleichermaßen von Herzen betrauert. Danach war Olivia bei Geraldine in Irland geblieben, und jeder hatte erwartet, daß sie sich spätestens nach der zweiten Saison vermählen würde. Von der leiblichen Mutter hatte sie ein beträchtliches Vermögen geerbt, und an Verehrern mangelte es ihr nicht. Sie erhielt zahlreiche Heiratsanträge, entschied sich indes, keinen anzunehmen und das Leben noch eine Weile als ledige Frau zu genießen.
Schließlich hatte Geraldine einen anderen Offizier kennengelernt, dessen Gattin sie dann wurde und mit dem sie sechs Wochen zuvor nach Indien gereist war. Es hatte sich von selbst verstanden, daß Olivia sie nicht begleiten würde. Da zwei ihrer englischen Anverwandten sich erboten hatten, sie bei sich aufzunehmen, war sie einen Monat bei ihrer verheirateten Cousine Elizabeth Wakelin und deren Mann Preston in London gewesen und nun auf dem Weg nach Parmouth, um in Zukunft bei ihrem Onkel James Fenimore zu leben.
Flüchtig fragte sie sich, wie seine beiden Töchter sein mochten. Zwar hatte sie mit dem Onkel in Briefwechsel gestanden, ihn und seine Familie jedoch seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Vermutlich hatten er und Tante Hester sich nicht sehr verändert, ganz im Gegensatz zu Olivias Cousinen Flora und Hetty. Die einst linkischen, von der Gouvernante bevormundeten Mädchen hatten sich nun sicher zu hübschen jungen Damen entwickelt, die inzwischen sechzehn und neunzehn Jahre alt waren. Hetty war sogar schon verlobt und sollte bald heiraten.
Durch die Ginsterbüsche erhaschte Olivia einen ersten Blick auf das Meer, das wie ein silbernes Band am Horizont glitzerte. Nach einer Weile schimmerte die endlose blaue Fläche des Ärmelkanals vor ihr, und kaum hatte die Kutsche eine vorspringende Landzunge umrundet, kam ein langer, sandiger Küstenstreifen in Sicht, an dessen östlichem Ende, am Abhang eines zur Mündung des Parr abfallenden Hügels, Parmouth zu erkennen war. Der Ort war eine größere Ansammlung alter, aus grauen Steinen errichteter Cottages, hübscher moderner Bauten und schmucker Sommerhäuschen.
Der Postkutscher hatte keine Schwierigkeiten, die ihm von Olivia angegebene Adresse zu finden. Das schmiedeeiserne Tor des Anwesens war offen, und am Ende der kurzen Auffahrt stand ein elegantes klassizistisches Gebäude mit weißer Stuckfassade, das von einem Türmchen flankiert wurde. Kaum hatte der Wagen gehalten, wurde das Portal geöffnet, und James und Hester Fenimore eilten die Stufen herunter.
„Meine liebe Olivia!“ rief Hester erfreut. „Wie schön, dich wiederzusehen. Wir haben auf das Eintreffen der Kutsche gewartet. Hoffentlich bist du nicht zu erschöpft von der langen Reise. Komm und laß dich anschauen.“ James Fenimores Begrüßung ging im Wortschwall der Gattin unter. Er verneigte sich vor der Nichte und küßte ihr galant die Hand.
Auch seine Töchter waren zum Empfang der Cousine erschienen, und Flora, ein fröhliches, temperamentvolles Mädchen, sagte nach einem langen Blick auf Olivia erstaunt: „Du hast dich überhaupt nicht verändert!“
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