My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
Enttäuschung vom letzten Jahr zu erinnern.“
„Es muß ein schwerer Schlag für sie gewesen sein, daß er sie nicht geheiratet hat“, meinte Olivia. „Sobald sie genügend Zeit zum Nachdenken hatte, wird sie die Dinge gewiß im richtigen Licht sehen.“
„Meine liebe Olivia, du bist sehr vernünftig“, lobte Hester. „Ich bin sicher, du wirst mir eine große Stütze sein.“
2. KAPITEL
Beim Frühstück benahm sich jeder, als sei am vergangenen Abend nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Der Herr des Hauses zog sich bald in sein Arbeitszimmer zurück, und da es nieselte, setzten Olivia, die Tante und Cousine Hetty sich mit Stickarbeiten in den Salon, während Flora laut und mißtönig das Tafelklavier malträtierte.
Nach einer Weile ließ der Regen nach, und kurze Zeit später wurde Mrs.
Fenimore der Besuch Mrs. Osgoods und ihrer Tochter Madeleine gemeldet.
Sie erkundigten sich nach Hettys Befinden und drückten die Hoffnung aus, sie habe sich inzwischen von den schrecklichen Kopfschmerzen erholt. Alice Osgood war eine charmante, ungefähr vierzig Jahre alte Dame, und ihre Tochter, Floras beste Freundin, eine wahre Schönheit. Als sie sich verabschiedeten, nahmen sie Flora mit.
„Miss Osgood ist sehr hübsch“, bemerkte Olivia. „Sie hat etwas Fremdländisches an sich.“
„Ja, sie ist Französin.“
„Wirklich? Ihre Mutter ist doch Engländerin, nicht wahr?“
„Mr. und Mrs. Osgood sind nicht ihre leiblichen Eltern“, erklärte Hester. „Sie haben sie an Kindes Statt angenommen, als sie acht Jahre alt war. In Wirklichkeit heißt sie Madeleine de Cressy. Ihr Vater war ein Emigrant, der während der Revolution nach England geflohen ist, doch später, nachdem die Lage sich beruhigt hatte, mit seiner englischen Frau und der Tochter wieder nach Frankreich zurückkehrte. Die Mutter starb, und der Vater wurde in einer Schlacht getötet. Ich weiß nicht mehr, wo das war.
Irgendwie gelangte Madeleine trotz des Krieges zur Familie ihrer Mutter nach England, die indes nicht willens war, sie bei sich aufzunehmen. Deshalb haben die Osgoods sie zu sich genommen, da sie keine leiblichen Nachkommen hatten.
Charles Osgood ist nämlich sehr viel älter als seine Gattin. Beide vergöttern Madeleine. Das ist eine rührende Geschichte, nicht wahr?“
„Ja“, stimmte Olivia zu.
„Oh, mir fällt ein, daß ich mit James über den Teppich reden muß“, verkündete Hester, stand auf und hastete aus dem Salon.
Verdutzt blickte Olivia ihr nach und fragte sich befremdet, was ein Teppich mit Miss Osgoods Geschichte zu tun haben konnte.
Hetty, die bislang geschwiegen hatte, murmelte bedrückt: „Ich nehme an, Mama hat dir berichtet, wie töricht ich mich benommen habe. Jedenfalls war sie gestern lange genug bei dir.“
Olivia hielt die Augen auf den Stickrahmen gerichtet und erwiderte ausweichend:
„Sie hat mir nur erklärt, warum das plötzliche Erscheinen Mr. Brookes für euch alle eine so unangenehme Überraschung war. Und sie wollte herausfinden, wer mich mit Mr. Brooke bekannt gemacht hatte. Es war wohl ein unglückliches Zusammentreffen, daß Mr. Channing ihn mir vorgestellt hat, denn er ist noch zu jung und unbesonnen, um peinliche Situationen voraussehen zu können.“
„Ja. Hat Mr. Brooke irgend etwas über mich geäußert?“
„Nein.“
„Aber er wußte doch, wer du bist. Sonst hätte er dich gewiß nicht gebeten, mit ihm zu tanzen.“
Olivia war überzeugt, daß Thomas Brooke sie aus einem ganz anderen Grund aufgefordert hatte, behielt ihre Meinung jedoch für sich.
Hetty ließ den Stickrahmen sinken und sagte seufzend: „Mama hat mir aufgetragen, mit dir spazierenzugehen, falls das Wetter sich bessert. Ich glaube, wir werden aufbrechen müssen.“
„Möchtest du denn nicht promenieren?“ fragte Olivia erstaunt. Sie sehnte sich danach, an die frische Luft zu kommen und die Umgebung kennenzulernen.
„Ach, alle starren mich dann wieder an!“ murmelte Hetty bekümmert.
„Vor allem die Leute, die gestern beim Ball waren und hier den Ton angeben.“ Olivia tat die Cousine leid. Es war verständlich, daß Hetty sich davor scheute, unter Menschen zu gehen. „Früher oder später wirst du dich damit abfinden müssen, daß du Aufsehen erregst“, erwiderte sie ernst. „Meinst du nicht, daß ein Spaziergang dir die beste Gelegenheit dazu gibt? Vielleicht starrt man dann mich an? Neuankömmlinge erwecken immer größtes Interesse, und außerdem habe ich einen neuen Hut, der bestimmt sehr
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