Mysterium
hat. Niemand sonst wird Sie über diese Sache befragen.«
Ich gehe mit ihm zur Tür, wo ich ihn umarme und ihm einen Kuss auf die Wange gebe. Er sagt, dass er morgen vorbeikommen werde, um meine Mutter zu besuchen. Sie brauchte auch nichts von dieser Sache zu wissen. Dann geht er, und ich verriegle hinter ihm die Tür.
Bis auf Geräusche des Straßenverkehrs in der Ferne ist alles still. Ich schaue bei meiner Mutter herein. Sie atmet tief und gleichmäßig. Der Schlaf der Gerechten, mit ein wenig Hilfe aus der Apotheke. Trotz allem, was ich gerade erlebt habe, oder vielleicht deswegen, fühle ich mich mit einem Mal erschöpft. Ich gehe zum Bad, öffne die Tür und ziehe an der Kordel, mit der das helle und wenig schmeichelhafte Deckenlicht eingeschaltet wird.
Ich schreie auf.
Im Spiegel sehe ich hinter mir jemanden in der Ecke neben der Duschkabine stehen.
Ich will davonlaufen, doch es geht nicht. Ich kann mich nicht bewegen. Ich bin vor Angst gelähmt. Ich spüre die Haare in meinem Nacken, steil aufgerichtet und steif wie Borsten.
Melanie Hagan lehnt lässig an der Wand. Sie lächelt und sieht mir neugierig in die Augen. Ich weißt gar nicht, wieso ich sie erkenne. Obwohl ich in meiner Kindheit eine Zeit lang besessen von ihr war, sind wir uns nie begegnet.
Bis jetzt.
Seit ihrem Todestag hat sie sich nicht verändert.
Ich sehe im Spiegel, wie ihre Lippen sich bewegen. Als ich ihre Stimme höre, scheint sie näher zu sein als ihr Körper, wie ein Flüstern in meinem Ohr. »Erinnere dich an mich«, sagt sie.
Irgendwie durchbreche ich den Bann.
Ich drehe mich um.
Da ist niemand. Ich bin allein.
Ich sehe wieder in den Spiegel.
Ihr Bild ist verschwunden.
Ich versuche mir einzureden, dass ich es mir nur eingebildet habe. Aber ich weiß, dass es nicht so ist.
Sie war da.
Das Licht geht aus und taucht mich abrupt in völlige Dunkelheit. Plötzlich wird mir kalt bis ins Mark, und ich habe das Gefühl, dass ich hilflos durch den Raum falle.
Ich schreie auf. Ich schreie und schreie …
61
Ein Licht flammt auf. Wo, weiß ich nicht genau. Ich kann eine Tür sehen. Meine Tür. Sie öffnet sich. Meine Mutter kommt herein. Ich weiß, dass es meine Mutter ist, obwohl ich nur ihren Umriss sehe.
Und ich weiß, dass es mein Zimmer ist. Aus irgendeinem Grund bin ich wieder in Saracen Springs.
Meine Mutter kniet sich neben mein Bett und legt die Arme um mich, so wie sie es getan hat, als ich ein kleines Mädchen war.
»Es ist alles wieder gut. Du hast schlecht geträumt.«
Ich will erwidern: »Nein, es war kein Traum …« , doch Mutter hat eine Lampe eingeschaltet. Ich sehe mich selbst im Wandspiegel. Und ich sehe meine Mutter.
»Mom, ich habe versucht, eine Möglichkeit zu finden, Daddy zu helfen …«
»Du hattest einen Traum, mein Schatz …«
»Nein, ich …«
Wieder schaue ich in den Spiegel. Ich bin zehn Jahre alt. Und meine Mutter ist genau so, wie sie immer war: jung und schön, nicht mehr die erschöpfte alte Frau, die ich gerade in ihrem Zimmer zurückgelassen habe.
Aber das war kein Traum. Es war noch etwas anderes. Ich weiß es. Ich war mir nie im Leben sicherer als jetzt. Ich muss sie überzeugen. Ich muss ihr verständlich machen, was gerade passiert ist.
»Mom, wir müssen Mr. Schenk anrufen!«
»Pssst. Versuch zu schlafen.«
»Er muss nach Deutschland fahren. Da gibt es einen Polizisten …«
»Schatz, hör auf damit, bitte …«
»Du musst mir glauben! Du musst , Mommy!«
»Schon gut. Wir reden morgen Früh darüber.«
»Nein! Jetzt! Da ist ein Mann in Chicago, der Daddy retten kann. Aber er wird bald sterben. Er heißt Lenny Reardon. Wir müssen ihn finden …«
62
Tom hatte nicht damit gerechnet, dass Clare ihn an diesem Morgen besuchen würde. Seit der Zeit, da er vom Gefängniskrankenhaus ins Bezirksgefängnis verlegt worden war, nachdem das Gericht eine Entlassung auf Kaution abgelehnt hatte, hatte er den Eindruck, dass er eher wie ein Mann behandelt wurde, dessen Schuld bereits erwiesen war und nicht wie jemand, der auf seinen Prozess wartet. Die Besuche waren eingeschränkt, und er musste die Stunden, die ihm zur Verfügung standen, sowohl für seinen Anwalt als auch für seine Frau verwenden. Julia, die ihn im Krankenhaus besucht hatte, wurde auf sein Drängen hin nicht gestattet, ihn im Gefängnis zu sehen. Sie hatten bereits arrangiert, dass Julia von Clares Eltern auf eine sehr lange Reise mitgenommen wurde, sobald der Prozess begann, um sie vor dem riesen Presserummel
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