Mystery Storys - 132 haarstraeubende Raetsel
garantiert keine Nachtigall. Ein Bächlein rauscht fröhlich plätschernd dahin, die grüne Wiese ist noch ein wenig feucht. Ein Häschen hoppelt satt und schwerfällig vorüber – eine reife Mohrrübe hat sein Bäuchlein gefüllt. Der Wind rauscht sanft in den Wipfeln der nahen Birken. Der Blick des Betrachters fällt auf einen kleinen Bauernhof. Kühe muhen dort im Stall, eine geschäftige Landfrau trägt einen Eimer Milch über den Hof in die Wohnstube. Kinderlachen schallt aus der Scheune. Kinderlachen? Nein, ein Kindlein steht am Zaun, blickt auf die Wiese hinüber und weint bitterlich. Der Vater, angetan mit schweren Gummistiefeln und einer grob gewebten Hose tritt hinzu, streicht dem kleinen Bub tröstend über den Kopf und murmelt ihm etwas ins Ohr. Eine Elster stößt sich vom Wipfel einer Tanne ab, fliegt pfeilschnell in Richtung Erdboden, doch die beiden Kohlenstücke, die auf der Wiese liegen, stellen keinen Wert für sie dar, sodass sie sich missmutig wieder in den azurblauen Himmel schwingt. Das Kind jedoch weint weiterhin und auch des Vaters tröstende Worte helfen nur wenig. Die Zukunft, ach, die Zukunft – sie liegt doch so fern, die Tragödie des Kindes jedoch, die ist soeben erst vollendet. Was ist geschehen?
Verkürzte Variante:
Neben einem Tiroler Bauernhof liegt eine grüne Wiese, die noch ein wenig feucht ist. Ein Häschen hat dort soeben eine Mohrrübe verspeist, in den Wipfeln der nahen Birke singt eine Lerche. Am Zaun des Bauernhofs steht ein kleiner Bub und weint. Der Vater tritt hinzu und flüstert ihm tröstend ein paar Worte ins Ohr. Doch als eine Elster im Sturzflug auf zwei Kohlenstücke, die auf der Wiese liegen, hinunterstürzt, nur um sich gleich darauf wieder in die Luft zu erheben, weint der Bub noch lauter, kann gar nicht mehr aufhören. Was ist geschehen?
Knappe Variante:
Ein Tiroler Häschen hat eine Mohrrübe gegessen, zwei Kohlen liegen auf der feuchten Wiese und ein Kind kann nicht aufhören zu weinen. Was ist geschehen?
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Drei Varianten, eine Geschichte. Alle drei Beispiele haben mehrere Dinge gemeinsam und doch alle ein und denselben Kern. Ein Hase, der eine Mohrrübe gegessen hat, zwei Kohlenstücke und ein weinendes Kind. Alle Details, die ansonsten in der ersten und zweiten Variante erwähnt werden, dienen einerseits natürlich der Ablenkung – führen somit auf »seitliche Pfade« –, sind aber andererseits auch durchaus »Futter« für den Denkapparat.
Im Folgenden beschreiben wir ein Frage-und-Antwort-Spiel, das sich aus diesem Lateral ergeben könnte:
Frage: Ist es wichtig, dass die Geschichte in Tirol spielt?
Antwort : Nein.
Frage: Weint das Kind, weil es das Häschen sieht.
Antwort: Nein.
Frage: Hat die Lerche etwas gegen die Elster?
Antwort: Egal.
Frage: Hat der Vater dem Kind etwas verboten?
Antwort: Nein.
Frage: Ist es von Bedeutung, dass die Wiese feucht ist?
Antwort: Ja.
Frage: Sind die Kohlen ein Symbol?
Antwort: Ja.
Frage: Sind die Kohlen wichtig für das Kind?
Antwort: Nein.
Na – schon etwas rausbekommen? Nein. Na gut – die Auflösung können wir kurz machen. Sie lautet: Der Schneemann ist geschmolzen.
Die längere Variante der Antwort würde lauten: Der Schneemann, den der kleine Bub einige Zeit vor diesem Tag gebaut hat, ist in der Frühjahrssonne geschmolzen, genau wie der übrige, ihn umgebende Schnee auf der Wiese, die deshalb noch sehr feucht ist. Nur noch die Mohrrübe, einst die Nase des Schneemanns, die gerade ein Hase gefunden und verspeist hat, sowie zwei Kohlenstücke, die die Augen bildeten, sind übrig geblieben. Deshalb weint das Kind und deshalb wird es vom Vater getröstet, der ihm sagt, dass es im nächsten Winter wieder einen Schneemann bauen kann.
Besonders spannend sind diese Rätselspiele in größeren Runden. Einer stellt die Aufgabe (und sollte natürlich die Lösung kennen) – die anderen bombardieren ihn mit Fragen. Der Aufgabensteller muss natürlich – Sie haben es im Beispiel schon gemerkt – bei den Antworten vorsichtig und genau sein. Vor allem Fragen nach der Bedeutung einer Sache gilt es abzuwägen: »Ist es wichtig, dass die Wiese feucht ist?« ist beispielsweise eine Frage, die genau überlegt sein muss. »Nein, denn das Kind weint nicht aufgrund der nassen Wiese«, aber: »Ja, weil es ein Hinweis darauf sein könnte, dass der Schnee auf der Wiese erst vor Kurzem abgetaut ist.« Eine gewisse Entscheidungsfreudigkeit ist also gefragt, und natürlich Einfühlungsvermögen in die
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