Mystic River
einfach … Mensch, findest du den stillen Hosenscheißer nicht auch ein bisschen gruselig?«
»Ach, der! «, sagte Pete. »Ja. Komischer Knirps. Wie der einen immer anstarrt, als ob er was sieht, das er einem aus dem Gesicht reißen will. Oder? Nein, den meinte ich gar nicht. Ich meinte Brendan. Ich finde, der Junge ist wirklich nett. Schüchtern, aber anständig, weißt du? Schon gemerkt, dass er mit seinem Bruder in Zeichensprache redet, obwohl er gar nicht muss? Als ob er dem Kleinen das Gefühl geben will, nicht allein zu sein. Ist doch nett. Aber, Jimmy, Mann, du guckst den immer an, als wärst du kurz davor, ihm den Kopf abzureißen, Mann.«
»Nein.«
»Doch.«
»Echt?«
»Ehrlich!«
Jimmy schaute über das Lottogerät durch die schmutzige Scheibe auf die Buckingham Avenue, die grau und feucht in der Morgenluft dalag. Er fühlte das verfluchte schüchterne Lächeln von Brendan Harris in seinem Blut und es versetzte ihm einen Stich.
»Jimmy? Das war nur ein Witz. Ich hab’s nicht so gemeint …«
»Da kommt Sal ja«, sagte Jimmy, den Blick noch immer auf die Fensterscheibe gerichtet, den Kopf von Pete abgewandt. Der Alte schlurfte über die Straße auf den Laden zu. »Wird auch verdammt noch mal Zeit.«
6 WEIL ER GEBROCHEN IST
Der Sonntag von Sean Devine – sein erster Arbeitstag nach einer einwöchigen Suspendierung – begann, als er vom Piepen des Weckers aus einem Traum gerissen wurde, worauf wie ein Schlag die Erkenntnis folgte, dass er nie wieder in den Traum zurückkehren konnte, wie ein Baby, das aus dem Bauch der Mutter gezerrt worden war. Er konnte sich an kaum etwas erinnern – nur an ein paar zusammenhanglose Details – und er hatte so ein Gefühl, dass der Traum sowieso keine großartige Struktur besessen hatte. Trotzdem war seine allgemeine Atmosphäre wie eine Rasierklinge in seinen Schädel eingedrungen, so dass er den ganzen Morgen über unruhig war.
Seine Frau Lauren war in dem Traum vorgekommen und noch immer konnte er ihre Haut riechen. Sie hatte wirres Haar von der Farbe nassen Sandes gehabt, dunkler und länger als in Wirklichkeit, und einen feuchten weißen Badeanzug getragen. Sie war stark gebräunt und ihre nackten Knöchel und der Spann ihrer Füße waren mit einer dünnen Sandschicht bedeckt. Sie hatte nach Sonne und Meer gerochen und auf Seans Schoß gesessen, seine Nase geküsst und ihn mit langen Fingern am Hals gekitzelt. Sie befanden sich auf der Veranda eines Strandhauses, Sean konnte die Brandung hören, den Ozean jedoch nicht sehen. Wo er hätte sein sollen, war ein leerer Bildschirm von der Größe eines Fußballfeldes. In dessen Mitte sah Sean nur sein eigenes Spiegelbild, nicht aber Lauren, es war, als hielte er Luft in den Armen.
Aber er hatte Fleisch in den Händen, warmes Fleisch.
Das Nächste, an das er sich erinnerte, war, dass er auf dem Dach des Hauses stand und Laurens Körper von einer glatten Wetterfahne aus Metall ersetzt worden war. Er griff nach ihr. Unten am Fundament des Hauses klaffte ein riesiges Loch, auf dessen Grund ein gestrandetes Segelboot kieloben lag. Dann war er nackt mit einer Frau im Bett, die er noch nie gesehen hatte, spürte diese Frau, wusste mit seltsamer Traumlogik, dass Lauren in einem anderen Teil des Hauses war und ihn über Video beobachtete, und eine Möwe brach durch die Scheibe, Glas splitterte aufs Bett wie Eiswürfel und Sean beugte sich, nun wieder gänzlich bekleidet, über den Vogel.
Die Möwe keuchte. Dann sagte sie: »Mein Hals tut weh«, und Sean wachte auf, bevor er antworten konnte: »Das kommt, weil er gebrochen ist.«
Er wachte auf, aber der Traum hielt ihn noch immer gefangen. Sean ließ die Augen zu, als der Wecker zu piepsen begann, und hoffte, dass auch das Teil seines Traumes war, dass er noch immer schlief, dass das Piepsen nur in seinem Kopf war.
Schließlich schlug er die Augen auf, er spürte noch immer den starren Körper der Unbekannten und konnte den Meeresgeruch auf Laurens Haut noch immer riechen und ihm wurde klar, dass das Piepsen des Weckers kein Traum war, kein Film, kein trauriges Lied.
Es war seine Bettdecke, sein Schlafzimmer, sein Bett. Es war seine leere Bierdose auf der Fensterbank, die Sonne stach in seine Augen, sein Wecker lärmte auf dem Nachttisch und machte piep piep piep. Es war sein Wasserhahn, der tropfte, weil er immer vergaß, ihn zu reparieren. Sein Leben, alles seins.
Er stellte den Wecker aus, stieg aber nicht sofort aus dem Bett. Er wollte den Kopf noch nicht
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