Mystic River
heben, weil er nicht wissen wollte, ob er einen Kater hatte. Wenn er einen dicken Kopf hatte, würde der erste Tag auf der Arbeit doppelt so lang werden. Dabei wäre der erste Tag nach seiner Suspendierung mit der ganzen Scheiße, die er würde einstecken müssen, mit den ganzen Witzen auf seine Kosten, sowieso schon verdammt lang.
Er lag einfach da und hörte den Lärm auf der Straße, den Lärm von den Koksern nebenan, die den Fernseher von Letterman bis Sesamstra ß e auf volle Lautstärke drehten, das Surren seines Deckenventilators, das Piepen der Mikrowelle und das Brummen des Kühlschranks. Auf der Arbeit piepten die Computer. Die Handys und Organizer piepsten, es lärmte aus der Küche, aus dem Wohnzimmer und ständig unten auf der Straße, auf der Wache und in den Mietwohnungen von Faneuil Heights und East Bucky.
Heutzutage war man ständig von Lärm umgeben. Alles sollte schnell gehen, flüssig laufen, in Bewegung bleiben. Alle fanden sich in der Welt zurecht, bewegten sich in ihr, wurden groß.
Seit wann war das so, verfluchte Scheiße?
Mehr wollte er eigentlich gar nicht wissen. Seit wann ging alles so schnell, dass er allem nur noch hinterherhinkte?
Er schloss die Augen.
Seit Lauren ihn verlassen hatte.
Da hatte es angefangen.
Brendan Harris starrte auf das Telefon und wollte es mit der Kraft seiner Gedanken zum Klingeln bringen. Er sah auf die Uhr. Zwei Stunden Verspätung. Keine große Überraschung, da Katie mit der Pünktlichkeit immer auf Kriegsfuß gestanden hatte, aber Mensch, ausgerechnet heute! Brendan wollte endlich los. Und wo war sie, wenn nicht auf der Arbeit? Es war abgesprochen, dass sie Brendan von der Arbeit aus anrufen, zur Erstkommunion ihrer Halbschwester gehen und ihn anschließend treffen sollte. Aber sie war nicht zur Arbeit erschienen. Und angerufen hatte sie auch nicht.
Er konnte sich nicht bei ihr melden. Das war vom ersten Tag einer der großen Nachteile ihrer Beziehung gewesen, seit er sich in sie verknallt hatte. Katie war normalerweise an einem von drei Orten: in den frühen Tagen ihrer Freundschaft bei Bobby O’Donnell, mit Vater, Stiefmutter und zwei Halbschwestern in der Wohnung in der Buckingham Avenue, in der sie aufgewachsen war, oder in der Wohnung darüber, wo ein paar von ihren durchgeknallten Onkeln lebten, von denen zwei, Nick und Val, legendäre Psychotiker mit sehr, sehr schwacher Kontrolle über ihre Impulse waren. Und dann war da noch ihr Vater, Jimmy Marcus, der Brendan aus irgendeinem Grund, den weder Brendan noch Katie verstand, abgrundtief hasste. Aber Katie war felsenfest davon überzeugt; schließlich hatte ihr Vater ihr im Laufe der Jahre unzählige Male eingebläut: »Halt dich von den Harris’ fern. Bringst du einen von denen mit nach Hause, enterbe ich dich!«
Katie behauptete, ihr Vater wäre eigentlich ein Verstandesmensch, aber einmal erzählte sie Brendan, und dabei tropften ihm ihre Tränen auf die Brust: »Er dreht durch, wenn die Rede auf dich kommt. Dreht vollkommen durch. Einmal nachts, ja?, da war er betrunken. So richtig voll gesoffen und da fing er mit meiner Mutter an, wie sehr sie mich geliebt hätte und so, und dann sagte er: ›Diese verfluchten Harris’, Katie, die sind Abschaum.‹«
Abschaum. Der Klang dieses Wortes setzte sich wie Schleim in Brendans Brust fest.
»Halt dich fern von denen! Das ist das Einzige, was ich im Leben von dir verlange, Katie. Bitte!«
»Wie konnte es dann passieren«, erkundigte sich Brendan, »dass du mit mir zusammengekommen bist?«
Sie drehte sich zu ihm um und lächelte ihn traurig an. »Weißt du das nicht?«
Um ehrlich zu sein, hatte Brendan nicht die geringste Ahnung. Katie war das Tollste. Eine Göttin. Brendan war einfach, nun ja, Brendan.
»Nein, weiß ich nicht.«
»Du bist freundlich.«
»Ja?«
Sie nickte. »Wenn ich dich mit Ray oder deiner Mutter, sogar mit irgendwelchen Fremden auf der Straße sehe, bist du einfach freundlich, Brendan.«
»Viele Leute sind freundlich.«
Sie schüttelte den Kopf. »Viele Leute sind nett. Das ist was anderes.«
Und als Brendan drüber nachdachte, musste er zugeben, dass er in seinem ganzen Leben noch niemanden kennen gelernt hatte, der ihn nicht mochte – nicht im Sinne eines Popularitätswettbewerbs, sondern im Sinne eines schlichten »Der junge Harris ist in Ordnung«. Er hatte nie Feinde gehabt, sich seit der Grundschule nicht mehr geprügelt und konnte sich nicht an das letzte Mal erinnern, dass ihn jemand angemotzt hatte.
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